Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
233 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 Umgruppierungen waren nicht nur äußerst konfliktgeladen, son- dern auch sehr arbeitsaufwändig. Allein schon die Zahl von rund 5.000 Zuteilungsberechtigten im Amtsbezirk lässt die Größen- ordnung der zu leistenden Verteilungsarbeit erahnen, denn diesen Personen standen je nach Alter und Verbraucherstatus ja unter- schiedliche Bezugsmengen verschiedenster Produkte zu, die jeweils über einzelne Karten zugewiesen wurden. Diese Karten wiederum waren in kleine Abschnitte unterteilt, die mit Schere abzutrennen und auf Abrechnungsbögen aufzukleben waren. Milch, Fett, Brot, Kartoffeln, Eier, Zucker, Mehl und zahlreiche weitere Lebensmittel, aber auch Zigaretten, Textilien oder etwa Fahrradbereifungen wur- den über dieses Kartensystem an die Endverbraucher ausgegeben – vorausgesetzt, die jeweiligen Produkte waren überhaupt in aus- reichender Menge verfügbar. Es zeigte sich nämlich immer deutli- cher, dass das, was auf dem Papier der Zuteilungsabschnitte stand, nicht unbedingt auch tatsächlich zur Verteilung kam. Der mit dem Bezugsscheinsystem einhergehende Arbeitsauf- wand war enorm. So waren im Amtsbezirk Glehn auf die geschil- derte Art undWeise amEnde jeder monatlichen Zuteilungsperiode seitens der diversen „Verteiler“ etwa 500.000 bis 600.000 dieser einzeln abgeschnittenen und aufgeklebten Lebensmittelkartenab- schnitte mit dem örtlichen Ernährungsamt abzurechnen! Das alles musste imVor-Computerzeitalter in reiner Handarbeit geschehen, weil praktisch jedes technische Hilfsmittel fehlte. So wurde bei- spielsweise im Rahmen der Sitzung der Bedburdycker Gemeinde- vertretung noch am 6. September 1946 beklagt, dass die lokale Verwaltung nicht über eine einzige eigene Schreibmaschine verfüge. „Das GemeinderatsmitgliedWindeck will versuchen, der Verwal- tung eine Schreibmaschine zu besorgen.“ 292 Die Arbeitsbelastung der mit der Versorgung der Bevölkerung befassten Stellen wuchs hingegen stetig. Nach Einschätzung der Glehner Verwaltungsspitze hatte sie sich in den Jahren nach Kriegs- ende bis Anfang 1948 in etwa verdoppelt. „Der wöchentliche Aufruf bestimmter Lebensmittel sowie die Abgabe derselben auf hunderte verschiedener Abschnitte stellt an die Kleinverteiler und in noch stärkeremMaße an das Kartenstellenpersonal höchste Anforderun- gen. Wenn beispielsweise in einer Zuteilungsperiode über 150 ver- schiedene Brotabschnitte aufgerufen werden, so kann man sich in etwa die mühevolle Arbeit der Angestellten vorstellen, die die Prü- fung der Kleinverteilerabrechnungen etc. vorzunehmen haben.“ „Die äußerst komplizierte ‚Ernährungsmaschinerie’“, so wurde des- halb nicht nur im Kreis Grevenbroich mit gutem Grund geklagt, nehme „einen Großteil der Verbraucher die Übersicht über die zu- geteilten Lebensmittel.“ Darüber hinaus galt es für die Gemeinde- und Amtsverwaltungen die verschiedenen „Verteiler“-Betriebe und die Einhaltung der zahlreichen Vorschriften selbst zu überwachen. 293 Neben den aus dem Rationierungssystem erwachsenden Ar- beiten lassen sich aus der Aufstellung der im Amtsbezirk Hoch- neukirch zwischen Juni 1945 und Ende 1947 verausgabten Le- bensmittelmarken einzelne Phasen ableiten, die zugleich als Beleg für die kontinuierlich steigende Belastung aller Beteiligter gelten können: Zwischen Mitte und Ende 1945 hatte die örtliche Ver- waltung zunächst den Rückstrom aller zuvor aus dem Ort Evaku- ierten sowie der bis dahin zurückgekehrten Soldaten zu bewältigen. Im Jahr 1946 folgte dann als nächste Welle die Ankunft der ersten großen Flüchtlingstransporte, wodurch insbesondere die Zahl an Kindern und Jugendlichen überproportional anstieg, eine Ent- wicklung, die – abgeschwächt – auch 1947 anhielt. All diese Men- schen mussten möglichst schnell und genau registriert, ihre jewei- ligen Ansprüche auf Unterstützung festgelegt und oft einer Einzelfallprüfung unterzogen werden. Ernährung Dabei sahen sich die Verantwortlichen schnell mit einer gefährli- chen gegenläufigen Entwicklung konfrontiert: dem Zustrom von immer mehr Menschen stand eine in weiten Teilen dramatische Abnahme von Lebensmitteln und dringend notwendiger Ver- brauchsgüter mit allen daraus resultierenden Folgen gegenüber. „Die Knappheit an allen lebensnotwendigen Dingen nimmt immer mehr zu“, lautete die Bestandsaufnahme zum Jahresende 1945. 294 Dieser Trend hielt unverändert an und nahm spätestens zur Jahreswende 1946/47 auch in ländlichen Gebieten zuvor un- geahnte Ausmaße an. Nach Beobachtungen der Kreisverwaltung Grevenbroich war die „allgemeine Lage“ Mitte Dezember 1946 „durch die übergroße Not nach dem totalen Zusammenbruch in Deutschland gekennzeichnet“, was zu schnell steigender Unzufrie- denheit und Unruhe führe. „Die Klagen der Bevölkerung beim Landratsamt und bei den Bürgermeisterämtern häufen sich von Tag zu Tag. Es gibt kein Gebiet des täglichen Lebens, das durch diese Klagen nicht berührt würde.“ Einer Verbesserung der Lage stünden auch anderthalb Jahre nach Kriegsende weiterhin „un- überwindliche Schwierigkeiten imWege“. Angesichts der dauerhaften Engpässe sah es die Kreisverwaltung mittlerweile schon als „verwunderlich“ an, „dass die Zivilbevölke- rung sich noch immer diszipliniert“ verhalte. Die allgemeine Lage sei aber derart „katastrophal“, dass die verantwortlichen Stellen bereits seit längerer Zeit mit Ausschreitungen rechnen würden. Erschwerend, so wurde der Militärregierung von deutscher Seite vorgehalten, käme noch hinzu, dass während des Krieges durch alliierte Flugblätter Hoffnungen geschürt worden seien, die nun nicht erfüllt würden. „Die passive Haltung der Bevölkerung“, so hieß es warnend, „könnte in kürzester Frist ins Gegenteil umschla- gen“, wenn sie sich „in ihren Hoffnungen endgültig enttäuscht“ sehe. Jedenfalls herrsche eine überaus angespannte Stimmung, die durch zahllose Gerüchte weiter angeheizt werde, was der „resign- iertenMeinung“ Vorschub leiste, die Alliierten würden die deutsche Bevölkerung ohnehin als „überflüssig“ erachten. „Den Zeitungs- und Rundfunknachrichten wird vielfach kein Glaube mehr ge- schenkt, zumal die Bevölkerung durch die Goebbels-Propaganda
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTI5NTQ=