Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
234 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 ohnehin sehr misstrauisch ist.“ 295 Eine, wenn nicht die wesentliche Ursache für die kontinuierlich wachsende Unzufriedenheit machten die Beobachter in der schlech- ten Versorgungslage aus. Es fehle an Kartoffeln, Fett und Nähr- mitteln, und der einsetzende Frost beraube „die Bevölkerung vor- läufig gänzlich der Hoffnung auf Kartoffellieferungen“. Die „Kartoffelfrage“ war bereits zuvor zu einem der wichtigsten Grad- messer von Versorgungsniveau und Stimmungslage geworden und sollte es auch amNiederrhein, woman ja von Bauernhöfen förmlich umgeben war, bis weit ins Jahr 1948 bleiben. 296 Wenn für Jüchen und Umgebung zu diesem Aspekt auch aus- sagekräftige Quellen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit fehlen, kann aus dem verfügbaren Material abgeleitet werden, dass hier wie im gesamten Kreisgebiet die Sicherstellung der Versorgung für die einheimische Bevölkerung von Beginn an im Fokus der Kom- munalverwaltungen stand, aber auch das handlungsleitende Inte- resse jedes einzelnen darstellte. Das lässt sich für die Jahre 1946 und 1947 in drastischer Deutlichkeit den Berichten unterschied- lichster Stellen entnehmen. Für Jüchen selbst kam erschwerend hinzu, dass der der Gemeinde obliegende Unterhalt des „Polenla- gers“ erhebliche Ressourcen und natürlich große Mengen an Le- bensmitteln erforderte, die in Teilen auch von der einheimischen Bevölkerung aufgebracht werden mussten und deren „Nahrungs- pool“ entsprechend schmälerten. Als die Bauernschaft seitens der Kreisverwaltung im Frühjahr 1946 zur Sicherstellung der Versor- gung zu einer (neuerlichen) Abgabe von Vieh aufgefordert wurde, legte die Amtsvertretung am 6. Mai hiergegen Einspruch ein. „In- folge des schlechten Viehbestandes in der Gemeinde Jüchen durch das Polenlager bedeutet die neuerdings verhängte Viehabgabe eine unbillige Härte für die Landwirte der Gemeinde.“ Tatsächlich hatte die Eingabe Erfolg. In der Sitzung am 28. Mai konnte mitgeteilt werden, dass die Stückzahl des abzugebenden Viehs von der Kreis- bauernschaft auf 100 reduziert worden sei. 297 Auch in anderer Hinsicht galt es zunächst, das vor Ort Verfügbare gegen Zugriffe von außen zu verteidigen. Weil die Versorgungseng- pässe in den umliegenden Großstädten noch weitaus ausgeprägter waren, versuchten die dort hungernden und frierenden Menschen ihre Lage dadurch zu verbessern, dass sie die stadtnahen landwirt- schaftlichen Anbaugebiete aufsuchten. „Es kamen 1.000de aufs Land zu uns und erbaten sich eine Schnitte Brot oder eine Kartoffel“, heißt es in der Chronik der Pfarrei in Herrenshoff. 298 Der Kor- schenbroicher Pfarrer Otto berichtete von „erschreckend zuneh- menden Diebstählen, besonders in Garten und Feld und die Über- flutung der ländlichen Gegenden von Bettlern aus der Stadt“ 299 , der dortige Amtsbürgermeister sprach Mitte Juni 1946 von einer „bitter ernsten“ Situation und täglich erscheinenden „bettelnden Kindern aus den umliegenden Städten“. 300 Die hungerbedingte In- vasion setzte sich ungebremst fort und die Ängste wuchsen: „Durch die Hamsterer aus den Städten wird die Versorgung auch auf dem Lande gefährdet. Das Hamstern muss mit allen Mitteln unterbun- den werden.“ Selbst wenn jeder dieser „Hamsterer“ nur eine kleine Menge entwende, so summiere die sich angesichts deren unüber- schaubarer Anzahl – allein amBahnhof in Korschenbroich wurden täglich rund 1.000 von ihnen gezählt! – die Beute zu deutlich spür- baren Verlusten. „Die Lage wird immer schlimmer“, lautete Mitte 1946 ein Hilferuf aus Glehn 301 , der in sämtlichen Dörfern amMit- telrhein in den folgenden Monaten stereotyp wiederholt wurde. Um sich dieser zeittypischen Form des im Schutze der Dunkel- heit praktiziertenMundraubs zu erwehren, begannen sich die Bau- ern und Kommunen die unerwünschten „Gäste“ in Eigeninitiative vom Leibe zu halten. Wie fast alle Nachbargemeinden 302 beschloss daher auch der Hochneukircher Gemeinderat Ende April 1946 eine „nächtliche Feldwache“ für die beiden Bezirke Hochneu- kirch/Holz und Otzenrath/Spenrath einzurichten. „Für die Feld- wache sollen acht Personen zur Einstellung kommen und zwar je vier für die beiden Bezirke. Die Dienststunden wurden festgesetzt von 22 Uhr bis 6 Uhr. Es sollen Doppelposten gehen und zwar tunlichst mit Hunden. Die Feldhüter erhalten eine monatliche Besoldung von 150,- RM und ferner 3,- RM Prämie für jeden Fall der Ermittlung eines Täters.“ Die durch diese Maßnahme entste- Kartoffelernte am Niederrhein Getreideernte am Niederrhein, 1946. Im Hintergrund Frauen und Kinder beim „Süemere“, dem Sammeln einzelner Ähren.
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