Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
235 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 henden Kosten sollten auf die örtlichen Landwirte umgelegt wer- den, die für jeden Morgen des von ihnen bewirtschafteten Landes pro Monat 1,- RM an die Gemeindekasse abzuführen hatten.“ 303 In Jüchen beschloss man imMärz 1947, dass Bauern und Garten- besitzer den Flurschutz auf freiwilliger Basis durchführen sollten, wobei Polizei und Militärregierung ihre Hilfe in dieser Frage zu- gesagt hatten. Wie erfolgreich diese nächtlichen Streifen arbeiteten und ob sie die ausufernden Felddiebstähle tatsächlich eindämmten, ist leider nicht überliefert. Klar ist aber, dass es zu dieser Maßnahme in den Orten am Niederrhein keine echte Alternative gab: So brachte etwa die Jüchener Amtsvertretung am 11. August 1947 gegenüber Kreisverwaltung und Militärregierung die „dringende Bitte“ zumAusdruck, sie möge „schnellstens genügend bewaffnete Polizisten“ einsetzen, „um die Reste der noch auf den Feldern ste- henden Zuckerrüben und Kartoffeln vor Diebstahl zu schützen“. 304 Auch im Jahr 1947 hatten sich die zahlreichen Engpässe nämlich weiterhin kontinuierlich zugespitzt. Nach Beobachtungen der Kreis- verwaltung eskalierte die „Unzufriedenheit der Zivilbevölkerung über die Versorgung mit Winterbrand, Lebensmitteln und Beklei- dung“ bereits zum Jahresbeginn in einem Maße, dass der Landrat größere Zuteilungen als „dringend erforderlich“ ansah, um offene Unmutsbekundungen zu verhindern. Zugleich hatte die bekannt gewordene Erwägung derMilitärregierung, dassHalten und Schlach- ten von Schweinen zu verbieten, unter der Landbevölkerung „eine starke Beunruhigung hervorgerufen“. „Es steht zu erwarten, dass, falls die Ablieferung wirklich durchgeführt wird, Protestkundge- bungen und Gewaltanwendungen nicht zu vermeiden sind“, wurde Mitte Februar 1947 berichtet und eine Woche später ergänzt, dass die Lage „nach wie vor sehr schlecht“ und die Bevölkerung „der Ver- zweiflung nahe“ sei. Dennoch, so wurde gegenüber der Militärre- gierung immer wieder betont, verhalte sie sich im Kreisgebiet wei- terhin „diszipliniert und ruhig“. „Sie ist sich darüber imKlaren, dass auch Streiks und Unruhen keine Besserung bringen.“ 305 Die Situation erschien insbesondere deshalb so aussichtslos, weil wegen des Verbrauchs der letzten Reserven und aufgrund einer schlechten Ernte im Jahr 1946 mittlerweile auch in ländlichen Regionen die Grundnahrungsmittel immer knapper wurden. Als sich die Bürgermeister des Kreises am 31. März 1947 in Greven- broich zu ihrer turnusmäßigen Versammlung zusammenfanden, berichtete Oberkreisdirektor Gilka über eine „allgemeine Zuspit- zung der Ernährungslage“. „Als besonders kritisch bezeichnete er die Versorgung mit Brot und Kartoffeln. Heute, zu Beginn der 100. Zuteilungsperiode, können keine Kartoffelzuweisungen mehr erfolgen, und die Ausgabe der vorgesehenen Brotrationen ist durch den Ansturm der Bevölkerung aus den benachbarten Großstädten, besonders in den Randgebieten des Kreises, gefährdet.“ 306 Zu den derart gefährdeten Gemeinden zählten auch jene in der Umgebung von Jüchen, wo Amtsdirektor Lesaar im Gemeinderat noch am gleichen Abend über die Besprechung in Grevenbroich berichtete. „Die Ernährungslage ist katastrophal; es sind keine Vorräte für die 100. Periode vorhanden und vom Engländer ist vorläufig nichts zu erwarten. Es soll deshalb nochmals an die Bauern appelliert werden, alles Ebenmögliche an Kartoffeln und Getreide abzugeben. Die gesamte Menge Getreide kann imAmtsbezirk verbleiben und verbraucht werden, die noch erfassten Kartoffeln zu 75%.“ 307 Zur wachsenden Verzweiflung der Bevölkerung steuerten im Frühjahr 1947 extreme Wetterkapriolen einen erheblichen Anteil bei. Am 10. März 1947, so berichtete etwa der Chronist der Volks- schule Neuenhoven, sei die langanhaltende Kälte mit Schneehöhen von bis zu einem Meter abrupt von extremem Tauwetter abgelöst worden. „Nach den wiederholten Schneefällen dieses Winters hatte man sich auf Schlimmes gefasst gemacht. Die Befürchtungen wurden durch die Tatsachen weit übertroffen.“ Binnen weniger Stunden wurden Neuenhoven und zahlreiche weitere Ortschaften überflutet. „Seit Menschengedenken steht eine solche Hochwas- serkatastrophe nicht in Erinnerung.“ 308 Aus Bedburdyck hieß es: „Hoher Schneefall setzt nun ein. AlleWege undDurchgangsstraßen sind nicht passierbar. Jeglicher Verkehr stockt. Wir sind abgeschlos- sen. Nach Wochen setzt Tauwetter ein. Über Nacht ist das Dorf gefährdet. Von vier Seiten (Hemmerden, Grevenbroich, Gierath und Stessen) eilt das Wasser in Riesenschritten zum Dorfe. An zwei Tagen ist die Hauptstraße am Dorfplatz bis Schlangen ein See. Hier und da muss ein Haus geräumt werden. Da plötzlich nachts ein gewaltiger Krach wie eine Detonation. Das Haus Gott- fried Kreuels, Gierather Straße, ist eingefallen.“ 309 Die ohnehin bereits mehr als angespannte Versorgungslage er- fuhr unter diesen Umständen eine nochmalige Eskalation. Es fehle, so berichtete die Kreisverwaltung angesichts des Wetterum- schwungs bereits am gleichen Tag, „an allem, was zu einem ge- rechten Leben gehört“, wobei die durch Tauwetter und Nieder- schläge „über den Landkreis hereingebrocheneWetterkatastrophe“, die zu „schwersten Schädigungen“ geführt habe, die Lage noch weiter verschlechtert habe. Lebensmittel seien dadurch verdorben, Einteilung der „Selbstschutzstreife“ im am Jüchener Bach gelegenen Scherf- hausen, 7. Juni 1946
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