Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

237 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 in einer unvorstellbaren Notlage. Es fehlt das Notwendigste zum Leben.“ Es werde fast ausschließlichMais-Brot ausgegeben, während die Fleisch- und Fettversorgung zusammengebrochen sei. „Die Lage ist heute so, dass selbst im Landkreis ein sehr großer Teil der Bevölkerung hungert. Die Arbeitsfähigkeit ist dadurch erheblich herabgesetzt. Die Gewichtsabnahme macht sich vor allem bei den Kindern bemerkbar, selbst in rein ländlichen Gemeinden. Durch das Fehlen der Widerstandskraft der Bevölkerung nimmt die Tu- berkulose immer größeren Umfang an.“ Der demokratische Neu- beginn drohte offenbar in Gefahr zu geraten: „Als bitterer Witz wird erzählt, die NSDAP sei für nachträgliche Mitgliederaufnah- men geöffnet worden.“ Die ausufernde Ernährungskrise konnte nicht ohne Auswir- kungen auf die physische und psychische Konstitution der Bevöl- kerung bleiben. Auch Anfang Mai 1947 klassifizierte der Landrat die allgemeine Lage weiterhin als „unverändert unerträglich“. Die Bevölkerung, so hatte er beobachtet, lege in ihrer großenMehrheit offenbar apathische und gleichgültige Züge an den Tag und lasse „einfach alles über sich ergehen“. Dieser Zustand hatte – anders als von Lesaar für Jüchen konstatiert - auch in den folgenden Wo- chen Bestand. „Die unvermindert anhaltende Ernährungskrise be- herrscht ferner Denken und Handeln der ganzen Bevölkerung. Tagaus, tagein gilt es die gleiche Frage zu beantworten, wie der Hunger einigermaßen gestillt werden kann. Es ist trostlos, keinen einzigen Lichtschein in der dunklen Lage entdecken zu können“, hieß es am 20. Mai 1947. Etwaige Hoffnungen auf eine Verbesserung der Ernährungslage durch eine gute Ernte zerschlugen sich – erneut durch Wetterka- priolen - nur zu bald. Der Kälte- und Hochwasserkatastrophe des Winters 1946/47 folgte im Sommer 1947 nämlich unerträgliche Hitze und eine daraus resultierende große Dürre, wie sie nach Ein- schätzung des Chronisten der Volksschule Neuenhoven seit 1911 nicht mehr beobachtet worden war. „Auf demFelde und imGarten ist das Gemüse vertrocknet.“ Immerhin, so notierte er, seien die Obst- und Kartoffelernte noch relativ befriedigend ausgefallen. „Ein großer Viehfuttermangel tritt ein. Wiesen, Gärten und Felder sind verdorrt“, wurde in der Chronik der Volksschule Bedburdyck festgehalten. 313 Statt Entspannung häuften sich angesichts des nahenden Win- ters daher wieder die Alarmsignale. Der seinen Amtsbereich ständig bereisende Grevenbroicher Kreisamtsarzt Pedretti warnte bereits Mitte September 1947, er „sehe mit großem Bangen dem kom- menden Winter entgegen“. „Die Ernährungslage droht immer schlechter zu werden. Der Mangel an Heizmaterial ist ungeheuer groß, die im vorigen Winter noch vorhandenen Vorräte sind auf- gebraucht.“ 314 Tatsächlich musste beispielsweise den Bedburdycker Gemeindevertretern am 10. Oktober 1947 mitgeteilt werden, dass im Ort noch rund 300 Zentner Einkellerungskartoffeln fehlen würden. Die „Ortsbauernführer“, so berichtete der Bürgermeister unter völlig unkritischer Verwendung der in der NS-Zeit einge- führten Bezeichnung, seien angewiesen worden, „alles zu tun“, um die Versorgung der Bevölkerung mit mindestens einem Zentner je Familie sicherzustellen“. 315 Die Landwirte werden sich jedoch kaum sehr abgabewillig ge- zeigt haben. Jene in Bedburdyck waren zu diesem Zeitpunkt si- cherlich sehr erbost, denn sie sahen sich mit der Forderung der Kreisverwaltung konfrontiert, weitere 24 Pferde abzuliefern - ein Drittel davon sofort. Bei aller nachvollziehbaren Verärgerung über immer neue Abgabeforderungen waren die Bauern zumindest in Teilen aber selbst dafür verantwortlich, dass ihnen mit erheblichem Misstrauen begegnet wurde. So stellte sich zur gleichen Zeit in Jü- chen heraus, dass bei Viehzählungen auf den ortsansässigenHöfen offenbar bewusst falsche Angaben gemacht worden waren und mehrere Landwirte die Zahl ihrer Gänse erheblich zu niedrig an- gegeben hatten. Die Amtsvertretung sah sich zu einer Strafmaß- nahme gezwungen und ordnete am 27. Oktober an, dass der ge- samte Bestand nicht gemeldeter Gänse kostenfrei an das Jüchener Krankenhaus abzuliefern sei. 316 Es ist anzunehmen, dass es sich bei diesem Beispiel lediglich um die sprichwörtliche Spitze eines großen Eisbergs des bewussten Verschweigens und heimlichenHortens handelte, der das Handeln

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