Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
24 AUS DEM LEBEN VON FRITZ STÖCKEL Auch den Austreibungstag konnte sie mir mitteilen. Es sollte der 13.12.1946 sein. Die Arbeit schmeckte mir nicht mehr. Es waren nur noch acht Tage bis zum 13.12.1946. Ich sprach Sikora in der Sache an. Er war ganz erstaunt, sagte, ihm sei nichts bekannt. Er ging sofort zum Bürgermeisteramt, er wollte sich erkundigen. Kam zurück und bestätigte den Transport für den 13.12.1946. Ich wäre mit meiner Familie auch dabei. Der Transport solle in den Westen gehen. Er hätte mich als Arbeiter in die Liste eintragen lassen; als Elektromeister käme ich nicht weg. Er hatte mir versprochen, bei einem Transport nach dem Westen mich mit Familie abschieben zu lassen. Er wolle nicht wortbrüchig werden. Im Gespräch sagte er mir unter anderem, ich hätte doch ein Tagebuch, wo ich täglich Eintragungen ma- che. Ich war erstaunt, dass er es wusste. Ich antwortete „Ja“. Sagte, er wolle mir raten, das Buch zu vernichten, um mich vor einem Unheil zu bewahren. Würde ich es mitnehmen, bei der Kontrolle käme es zum Vorschein, würde ich wahrscheinlich verhaftet und von der Familie getrennt, käme in ein Lager und würde die Familie vielleicht nicht mehr wiedersehen. Das Risiko war mir zu groß, sagte: „Ich vernichte es sofort“, verbrannte es. Nur war mir unerklärlich, dass er es wusste. Es waren noch sechs Tage bis zum 13.12.1946. Es waren schwere Tage und Nächte, meine Frau konnte es nicht fassen, sie weinte oft bitterlich. Sie hatte einen großen Anteil an dem, was wir geschafft hatten, nun sollte alles dahin sein. Den beiden Polen, mit denen ich arbeitete, sagte ich es, sie waren betroffen. Fragten mich, ob ich noch etwas hätte, was ich nicht mitnehmen könnte und verkaufen wollte. Einer suchte eine Uhr, der andere eine Fahrradkarbidlampe. Ich hatte beide Sachen, sagte, sie könnten beides haben. Die Wanduhr war das Geburtstagge- schenk von ihrem Vater zu ihrem 25. Geburtstag an meine Frau. Es war schwer, die Uhr aus dem Haus zu bringen. Sikora durfte nichts merken. Schon am Abend kam einer und holte beide Sachen ab. Ich wollte 200 Zloty für die Sachen haben, er gab mir 250, freute sich über die schöne Uhr, konnte unbehelligt alles aus dem Haus bringen. Meine Frau weinte darüber. Am andern Tag kaufte ich mehrere Packungen Zigaretten, waren nur gegen Zloty zu haben. Sollte wir bei der Austreibung mal Schwierigkeiten haben, hoffte ich, mit Zigaretten etwas Erleich- terung zu bekommen. Es kam auch so. (…) Die letzte Nacht im Hause, es waren tragische Stunden. Wir saßen auf unseren Habseligkeiten, meine Frau weinte bitterlich, sie war fast am Zusammenbruch. Sikora und seine Frau kamen kurz vor Mitternacht noch mal in unsere Wohnung. Brachten uns ein Stück Speck und eine Flasche Schnaps, sagten: „Sie werden es auf der Reise gut gebrauchen können.“ Sie sahen meine Frau in dem fast zusammengebrochenen Zustand. Auch ihnen merkte man eine Betroffenheit an. (…) Wir mussten uns um 8 Uhr auf dem Sportplatz mit unserem Gepäck einfinden. Dann ging es auf den Bahnhof. 35 Personen kamen in jeden Waggon, dazu das Gepäck. Wir hockten zwischen Säcken, Kof- fern, Reisekörben usw., konnten uns kaum rühren. Eine Kontrolle in Langenöls erfolgte nicht. Gegen Abend fuhr der Zug bis Moys bei Görlitz. Der Zug wurde etwas außerhalb des Bahn- hofs kurz vor der gesprengten Neiße-Brücke abgestellt. Dort mussten wir aus den Waggons. Es hatte geschneit und eine Kälte von über 20 Grad herrschte. Wir waren am Ende des Zu- ges in Waggon 51 fast an der Neiße-Böschung. Man konnte sich kaum halten, die Böschung an den Gleisen war steil und vereist. Mutter weinte, sie konnte sich an der Böschung nicht halten. Wir kamen nicht vorwärts. Die Miliz schrie, wir sollten uns beeilen. Ein Miliz-Mann kam, leuchte mit der Taschenlampe, sagte, wir sollten uns beeilen. Beim Näherkommen erkannte ich ihn, es war einer aus Langenöls von der Miliz, einer der Ge- mäßigten, er kannte mich auch. Bat um Geduld, er sehe doch, dass die alte Mutter allein nicht weiter kam. Ich reichte ihm eine Schachtel Zigaretten. Er fasste mit mir zusammen den Reisekorb, meine Frau half der Mutter, und es ging ein gutes Stück vorwärts. Er sagte, weiter könne er nicht mehr helfen, blieb aber in ei- nem kurzen Abstand von uns. Es waren viele Zivilpolen auf dem Bahngelände, griffen ein Stück und rannten dann davon. Durch seine Anwesenheit hatten wir etwas Schutz vor den Po- len. Wir mussten bis zu den Häusern bei den Kasernen, normal brauchte man etwa 20 Minuten. Wir haben fast 2 Stunden ge- braucht. In den Wohnungen, wo wir untergebracht wurden, durfte nicht geheizt werden, trotzdem nachts das Thermometer auf 25 Grad Kälte sank. Zum Teil fehlten die Fensterscheiben. Wir haben uns in der Nacht zusammen in eine Ecke zwischen unserem Gepäck verkrochen. Am Tage waren noch 20 Grad Kälte. Mittags bekamen wir heiße Wassersuppe. Das war alles. Drei Tagen mussten wir in Moys zubringen. Am 16.12.1946 erfolgte die Gepäckkontrolle. (…) Wir kamen gegen 15 Uhr an die Reihe. Wir waren im Eingang zum Kontrollraum, da kam ein Miliz-Mann und raubte der Mutter ihre Wolldecke, er ver- schwand mit der Decke. Ich sah im Kontrollraum den Leiter, wollte zu ihm, Miliz-Männer hielten mich fest, wollten mich mit Gewalt in den Raum drängen. Der Leiter hatte den Vorfall ge- sehen und kam heraus, fragte, was geschehen sei. Ich sagte, was geschehen war. Der Miliz-Mann war fort. Er führte uns in den Raum, in die Mitte an einen Kontrolltisch. Sprach mit dem Kontrolleur, ging etwas abseits. Der Kontrolleur fragte mich, wieviel Geld ich bei mir hätte, was für Wertsachen, hob den Reisekorb an, sagte: „Der ist ja so schwer, was ist in dem Korb?“ Ich antwortete: „Etliche eiserne Töpfe, dadurch das Gewicht.“ Er war etwas komisch, machte eine Handbewegung, sagte, wir möchten schnell verschwinden. Wir eilten dem Ausgang er- leichtert zu. Wir waren froh, dass wir so davon gekommen wa- ren. (…)
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