Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

240 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 eher unbeholfen. So machte Oberkreisdirektor Gilka die Kom- munalvertreter in einer Sitzung am 13. November 1946 unter dem Tagesordnungspunkt „Brennmaterialversorgung“ auf die Anord- nung der Militärregierung aufmerksam, „überall ohne Rücksicht auf irgendwelche privaten oder öffentlichen Interessen Holz zu schlagen“. „Jeder Gemeindedirektor habe dort anzufangen, wo er den größten Ertrag zu erwarten hat.“ 323 Der Waldbestand aber, das war wohl jedem klar, war endlich und sein planloses Abholzen würde die niederrheinische Landschaft erheblich zu ihremNachteil verändern. Wie bereits geschildert, sahen sich dieMenschen zu allemÜber- fluss zur Jahreswende 1946/47 mit einem überaus harten Winter konfrontiert. „Das neue Jahr brachte strenge Kälte mit“, heißt es etwa in der Chronik der Volksschule Neuenhoven. „Es wurden Nachttemperaturen von minus 20 Grad gemeldet. Die Bevölke- rung, die schon hungerte, friert jetzt noch dazu, da für die Haus- brandversorgung keine Kohlen freigegeben sind.“ 324 Den Kommu- nalverwaltungen und Gemeindevertretern boten sich praktisch keine Handlungsoptionen. So erörterten die Jüchener Amtsver- treter in ihrer Sitzung am 20. Januar 1947 vor dem Eintritt in die eigentliche Tagesordnung zwar zunächst „die z.Zt. dringlichste Frage der Kohlennot“, und Amtsbürgermeister Schiffer referierte über „die furchtbare Not des Brennstoffmangels und seine ent- setzlichen Auswirkungen“, aber das Resultat bestand lediglich aus dem einstimmig gefassten Beschluss, „eine Resolution in verschärf- ter Form an die Landesregierung zu schicken“, wo sie dann – wie zahlreiche ähnlich lautende Schreiben aus anderen Kommunen – weitgehend wirkungslos verhallte. 325 Die Folgen der unheilvollen Allianz aus Hunger und Kälte wa- ren gravierend. Anfang Januar 1947 beklagte die Kreisverwaltung in Grevenbroich ein „unvorstellbares Elend“, das durch die feuchte Witterung und einen neuerlichen Kälteeinbruch noch erheblich verschärft wurde. Die Stimmung sei „stark gereizt“, weil sich die Bevölkerung durch immer neue Versprechen hingehalten fühle. Der Krankenstand sei im Anstieg begriffen, wobei Mütter mit Säuglingen und Kleinkindern besonders betroffen seien, „da sie ihren Kindern keine warmen Stuben geben können, die diese drin- gend notwendig haben“. 326 Und warmes Essen gab es in vielen Fällen ebenfalls nicht. Unter solchenUmständen blieb denmeistenMenschen nur der Weg zur Selbsthilfe, der seit der Silvesterpredigt des Kölner Erzbi- schofs Frings auch von höchster Stelle autorisiert war. „Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwen- dig hat, wenn er es auf andereWeise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann“, hatte Frings verlauten lassen und damit den kirchlich sanktionierten Tatbestand des „Fringsens“ ins Leben gerufen, der sich mit rasendem Tempo im Land verbreitete. „Die Kälte nimmt furchtbar zu. Brennmaterial wird kaum ge- liefert. Man rückt auf das Engste zusammen. Der Herd in der Küche ist abends von allen Hausbewohnern umlagert. Fast jeden Abend rollen dieWägelchen durch die Straßen zumBahnhof Gre- venbroich zum Kohlenklau“, heißt es hierzu beispielsweise in der Chronik der Volksschule Bedburdyck. 327 Und die Kreisverwaltung in Grevenbroich fasste die verzweifelte Lage der Menschen Mitte Januar 1947 dahingehend zusammen, dass die der Kälte „völlig schutzlos“ gegenüberstehende Bevölkerung hinsichtlich der Ver- sorgung mit Hausbrand zunehmend zur „Selbsthilfe“ greife. Große Teile der Kreisbevölkerung, so berichtete der Landrat eine Woche später, könnten „kaum noch ein menschenwürdiges Leben fristen“. Selbst „das primitivste Leben“, so die Meldung vom 28. Januar 1947, sei kaum noch möglich. 328 Die Folgen waren naheliegend und nachvollziehbar: Der Dieb- stahl von Brennmaterial vonmit Kohle beladenen Eisenbahnwagen sei in stetem Wachstum begriffen, wurde Ende Februar 1947 be- richtet. „Die Polizei war nicht in der Lage, diese Diebstähle ganz zu unterbinden.“ Selbst der Einsatz von Schusswaffen durch die Bewachungsmannschaften konnte die frierenden Menschen nicht mehr von Diebstählen abhalten – ein Zustand, der auch im März unvermindert anhielt. Hinzu gesellte sich nun auch noch das un- kontrollierte Abholzen von Wäldern durch die Frierenden selbst. „Durch das wilde Holzfällen wird die Arbeit vieler Jahrzehnte ver- nichtet“, resümierte der Landrat am 4. März 1947. 329 Angesichts der extremenMängel blieben aber auch den Verantwortlichen oft- mals keine Alternativen mehr zu einzelnen, als Verzweiflungstaten erscheinenden Aktionen. So schlug die Bedburdycker Gemeinde- verwaltung Ende Februar 1947 beispielsweise vor, die auf dem Schulhof der Volksschule stehende alte Weide zu fällen, „um der Holzknappheit bei der Sargherstellung in etwa abzuhelfen“, ein Ansinnen, dem die Gemeindevertretung zustimmte. 330 Selbst die Toten hatten unter dem allgemeinen Mangel zu leiden! Gesundheit Und die Lebenden wurden unter den obwaltenden Umständen zu- sehends krank und kränker. Permanenter Hunger bei gleichzeiti- gem Fehlen der wichtigsten Nährstoffe, aufgrund fehlenden Hausbrands unzureichend zubereitete, oftmals ungekochte Mahl- zeiten, völlig zerschlissene Kleidung und – insbesondere bei den Kindern – kaum verfügbares Schuhwerk mussten – gepaart mit permanenter Kälte und Feuchtigkeit - die Gesundheit der Bevöl- kerung erheblich in Mitleidenschaft ziehen. Als Anfang Oktober 1946 der Kreisamtsarzt Pedretti demOber- kreisdirektor über die aktuelle Gesundheitslage berichtete, fiel seine Bestandsaufnahme entsprechend besorgniserregend aus: „In- folge des Mangels an Fett und Eiweiß wird der Gesundheitszustand der Bevölkerung immer schlechter, die Zahl der Kranken steigt vonWoche zuWoche, und die Arbeitsfähigkeit wird ständig mehr herabgesetzt. Die Aufmerksamkeit und die Leistungen der Schul- kinder nehmen immer mehr ab.“ Man beobachtete eine zuneh-

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