Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
242 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 in großer Sorge, zumal es auch keine Haferflocken gibt. Ein krankes Kind ist in manchen Fällen zur Zeit im Kreise kaum zu retten. Es fehlt anWindeln, Tüchern, um die Säuglinge zu pflegen und sauber zu halten.“ Trotz verschiedener Bemühungen auf sämtlichen Verwaltungs- ebenen war zunächst keinerlei Besserung in Sicht. „Das Hungern bei Kindern und Erwachsenen nimmt seinen Fortgang. Es erübrigt sich, darüber einen Bericht zu erstatten“, hieß es Mitte April 1947 ohne den geringsten Optimismus. Zur Illustration der schier aus- weglosen Lage wurde allerdings darauf hingewiesen, „dass zahlrei- che Personen auf den Straßen, in der Kirche und beim Besuch von Läden und Amtsstellen ohnmächtig zusammenbrechen, weil sie am Ende ihrer Kräfte sind“. Mangelernährung und feucht-kalte Unterbringung wirkten sich jedoch sehr bald noch schwererer und nachhaltiger auf die Be- troffenen aus und ließen eine Krankheit zu einer Art Symbol der Zeit werden. „Im letzten Monat“, so teilte der Kreisamtsarzt am 12. Mai 1947 mit, seien „auffallend viele neue Fälle von Lungen- tuberkulose und Knochentuberkulose bekannt“ geworden. Die in Hochneukirch eingerichtete Tbc-Station könne „die Menge der zu asylierenden Tuberkulösen des Kreises“ bereits nicht mehr fassen und auch jene in Neuss nehme keine Insassen mehr auf, weil sie überfüllt sei. „Damit ist das Tuberkuloseproblem für unseren Kreis besonders schwierig geworden. Mit jeder Ansteckung eines Kindes durch einen erwachsenen Tuberkulösen wird ein neuer Herd ge- setzt, der demnächst einmal zu neuen Quellen Anlass geben muss.“ Trotz aufkommender Frühjahrswärme war kein Ende der Misere in Sicht, wobei sich insbesondere der Gesundheitszustand der Schulkinder weiterhin sehr ungünstig entwickelte. So kam es zu einer zusätzlichen „Masernepidemie“, die Anfang Juni 1947 auch auf Bedburdyck übergriff. Außerdem wurden zur gleichen Zeit „zahlreiche neue Tuberkulosefälle bekannt.“ Weitere zeittypische Krankheitsbilder gesellten sich hinzu: „Die Ernährungslage ist noch schlechter geworden. Auffallend viele Durchfallkranke werden beobachtet. Die Durchfälle sind nicht nur und allein auf den Genuss des Maisbrotes zurückzufüh- ren.“ Ansonsten, so hieß es in einem Lagebericht des Landrats im März 1947 desillusioniert weiter, erübrige es sich, über die Ernäh- rungslage überhaupt noch zu berichten. Allerdings wurde nun deutlicher auf deren Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung hingewiesen. „Infolge der mangelhaften Ernährung“ machte Kreis- amtsarzt Pedretti ab Mai des Jahres ein deutliches Nachlassen der „Arbeitskraft der Hand- und Kopfarbeiter“ aus. „Die Nachunter- suchungen für die Krankenkassen lassen ein besonders starkes An- schwellen der völlig erschöpften und sich nicht mehr zusammen- reißen könnenden Personen erkennen.“ Auf dieseWeise vermischten sich Ursache und Wirkung unter den dramatischen Umständen zusehends. Durch den Mangel auf allen Gebieten, so war schon am 25. Februar 1947 mitgeteilt worden, würden mit Ausnahme der unbedingt lebensnotwendigen Betriebe die Arbeit und damit das gesamte wirtschaftliche Leben mittlerweile fast völlig ruhen. „Dadurch ist auch an eine Produktion von Verbrauchsgütern nicht zu denken, was sich sehr zum Nachteil der Bevölkerung, die drin- gend Verbrauchgüter, vor allem Textilien benötigt, auswirkt.“ Drei Wochen später wurde mit gleicher Stoßrichtung der Hoffnung Ausdruck verliehen, „dass nach Überwindung des starkenWinters die Betriebe ihre Produktion wieder voll aufnehmen“ würden, was allerdings eine ausreichende Verfügbarkeit von Kohlen und Strom zur Voraussetzung habe. „Sollte dies jedoch nicht möglich werden“, so das bedrückende Szenario, dann sei „eine weitere Verelendung der Bevölkerung nicht mehr zu vermeiden.“ 332 Es ist naturgemäß schwer, die Folgen der langfristigen, fast sämt- liche Lebensbereiche betreffenden Versorgungsengpässe für Physis und Psyche zu benennen oder gar zu messen. Die Dimension lässt sich aber zumindest in Ansätzen an den Ergebnissen einer Unter- suchung ablesen, die im März 1948 auf Anweisung der Militärre- gierung unter den Schülerinnen und Schülern der Otzenrather Volksschule durchgeführt wurde. 122 von ihnen – und damit im- merhin 78 Prozent! - wiesen Untergewicht auf, 45 (29%) waren nicht in der Lage, ein Pausenbrot mit zur Schule zu bringen, 15 (10%) besaßen keinerlei Schuhe, weitere neun (6%) verfügten nur über Holzsandalen oder Holzschuhe, 94 (60%) über lediglich ein Paar Schuhe für alle Zwecke. 15 Schüler (10%) besaßen keinen Mantel. Die materielle Not wurde durch weitere Faktoren ver- schärft. So hatten die Väter von acht Kindern (5%) den Krieg nicht überlebt, während 26 weitere (17%) als vermisst galten oder sich in Kriegsgefangenschaft befanden. 333 Das „Wilhelm-Helenen-Stift“ in Hochneukirch. Der Kloster und Krankenhaus be- herbergende Gebäudekomplex dürfte 1947 auch Sitz der Hochneukircher TBC- Station gewesen sein.
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