Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
249 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 wieder in einem ordnungsgemäßen Zustand. In der Schule selbst fehlt jegliches Unterrichtsmaterial.“ Angesichts der unhaltbaren Zustände nutzte die neue Lehrkraft die Sommerferien für die drin- gendsten Renovierungsarbeiten, an denen sich auch die Schüler beteiligen. 357 Daran, dass der für Schulzwecke verfügbare Raum in den Dör- fern des Niederrheins immer stärker begrenzt wurde und sich zu- dem in schlechtemZustand präsentierte, hatte auch der seit Herbst 1945 verstärkt einsetzende Zuzug von Flüchtlingen und Vertrieben einen erheblichen Anteil. Einerseits stieg dadurch die Zahl der zu unterrichtenden Schülerinnen und Schüler erheblich an, anderer- seits waren es vorwiegend Klassenräume und andere schulische Einrichtungen, die – wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird - in denGemeindenmangels Alternativen bevorzugt als Notquartiere genutzt wurden. So beklagte die Kreisverwaltung in einer „Das Erziehungswesen im Landkreis Grevenbroich“ betitelten Denk- schrift im Frühjahr 1947, die Instandsetzung von Schulgebäuden würde durch diese Zuzüge in erheblichemUmfang gehemmt: „Der Zustrom der Ostflüchtlinge verschlechtert die Lage zusehends. Diese Kinder haben überhaupt nichts an Lernmitteln und oftmüs- sen Schulsäle hergegeben werden, um diesen Armen die erste Un- terkunft zu gewähren.“ 358 In Holz etwa konnte ein dringend benötigter Klassenraum erst imAugust 1947 mit hohemAufwand und dennoch lediglich not- dürftig renoviert werden, weil er zuvor als „Massenquartier“ gedient und sich danach in „furchtbarem Zustand“ befunden hatte. 359 In Gierath waren Teile der Schule noch Anfang 1950 nicht nutzbar, weil sie nach wie vor von Flüchtlingen und Vertriebenen bewohnt wurden. Auf Antrag von Hauptlehrer Wagner beauftragten die Gemeindevertreter die Verwaltung daher am 5. Januar, „die Flücht- linge sobald als möglich aus der Schule zu nehmen“ - allerdings ohne dass etwas geschah. Am 21. März 1950 musste die Anweisung zur Räumung der Schule erneuert werden. Ob bzw. wann das dann tatsächlich geschah, ist denn Quellen nicht zu entnehmen. 360 Am Beispiel von Otzenrath sei noch kurz auf ein weiteres Pro- blem hingewiesen, das einen ordnungsgemäßen Schulbetrieb er- heblich beeinträchtigen konnte. Auch hier waren ausweislich der Chronik der katholischen Volksschule bis in denMärz 1949 hinein an beiden Schulgebäuden „nur die unbedingt notwendigen Repa- raturarbeiten vorgenommen worden“. Aber auch die Lehrerdienst- wohnung imNebengebäude war bis dahin noch nicht wieder her- gestellt worden, weil sie „immer noch mit Ostvertriebenen besetzt“ war. „Da ragen am Ostende die Dachsparren anklagend in die Luft.“ 361 Weil auch in anderen Orten die eigentlich für Lehrkräfte vorgesehenen Wohnungen entweder noch nicht instandgesetzt oder anderweitig belegt waren, wurde es für die Kommunen immer schwieriger, geeignete Pädagogen anzuwerben. Zumeist verheiratet, forderten sie für ihre Familien akzeptablen Wohnraum, weshalb sich manch ambitionierter Lehrer anderen Orten und Regionen mit besseremWohnungsangebot zuwandte. Mangelerscheinungen Der Zustand der verfügbaren und das Fehlen weiterer Unterrichts- räume waren nicht die einzigen Gründe, die einen ordnungsgemä- ßen Schulunterricht in den erstenNachkriegsjahren in erheblichem Maße beeinträchtigten. In seiner bereits zitierten Denkschrift über die „Schulverhältnisse in meinemAufsichtsbezirk“ fasste der Gre- venbroicher Schulrat die Misere zusammen. „Es fehlte an allem“, teilte er mit. Es gebe praktisch keine Schultafeln mehr, und an käl- teren Tagen müsse der Unterricht ausfallen, „weil keine Kohlen vorhanden sind“. „Selbst Orte, die direkt bei den Braunkohlegru- ben liegen, mussten schließen.“ Der Ärger hierüber war deutlich spürbar: „Wir wohnen auf der Braunkohle und haben kalte Schu- len.“ Die Folgen solcher mit weiteren allgemeinen Mangelerschei- nungen gepaarten Zustände konnten nicht ausbleiben. „In letzter Zeit häufen sich die Schulversäumnisse. Die Ursache ist in der schlechten Bekleidung und dem noch schlechteren Schuhwerk zu suchen.“ Im Herbst 1946 habe nicht – wie seinerzeit wohl seitens der Militärverwaltung versprochen – jedes Kind, sondern lediglich jedes 20. neue Schuhe bekommen, klagte der Schulrat vorwurfs- voll. Verschärft würde die ohnehin bis zum Anschlag angespannte Lage noch durch zwei weitere Zeiterscheinungen. Zum einen durch den großen Mangel an Lehrern, was im Grevenbroicher Schulaufsichtsbezirk dazu geführt habe, dass imDurchschnitt eine Lehrkraft 74 Kinder unterrichten müsse – „die höchste Zahl im ganzen Regierungsbezirk Düsseldorf “. Zum anderen bringe das „Anwachsen der Schülerzahlen durch die Flüchtlinge“ zahlreiche weitere Probleme mit sich und führe zur weiteren Eskalation der bestehenden Engpässe. 362 In der Neuenhovener Volksschule war der Schnitt von 74 Schü- lerinnen und Schülern mit der Aufnahme des Unterrichts in den vier oberenKlassen bereits am18. September 1945 erreicht worden. Die allein vor acht Schuljahren stehende Lehrerin zog eine traurige Bilanz: „Die Arbeit ist schwieriger als ich gedacht habe. Zunächst fehlt es am nötigsten Handwerkszeug, keine Tinte, keine Federn, keineHefte, keine Bücher. So armwaren wir noch nie. Bleistifte und Tafeln sind ebenfalls nicht zu beschaffen. Die Kreide ist auf, da heißt es improvisieren. Für das erste Schuljahr schreibe ich mit Wasser an die Tafel. Es geht ganz gut und macht zudem den Kleinen Spaß.“ 363 Auch in der katholischen Volksschule in Otzenrath konnte von einem geordneten Schulbetrieb in den erstenWochen und Mona- ten nur sehr eingeschränkt die Rede sein. „Der Schuldienst war fast Improvisation“, heißt es in der Schulchronik. Zwei Lehrkräfte unterrichtetenmehr als 200 Kinder in vier Abteilungen. „Es fehlten die notwendigen Lehr- und Lernmittel. In einem notdürftig her- gerichteten Schulsaal der ehemaligen evangelischen Schule (die scheibenlosen Fenster nach der Straßenseite waren z.B. nur mit Brettern vernagelt) unterrichtete Frl. Breuer das 1. bis 4. Schuljahr, während der Schulleiter im Klassenraum des alten Schulgebäudes den Unterricht in den übrigen Klassen erteilte. Das zweite Schul-
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