Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
252 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 Evangelische Volkschulen Nachdem das NS-Regime alles daran gesetzt hatte, jeglichen kirch- lichen Einfluss aus den Schulen zu verbannen, beeilten sich die Ver- antwortlichen nach Kriegsende in konfessionell geprägten Gebieten den alten Zustand wieder herzustellen und die Bekennt- nisschulen neu zu beleben. Auch wenn die neuerliche strikte Tren- nung der Konfessionen beileibe nicht allen gefiel - Irmgard Coenen, die ihre Sicht hier an anderer Stelle schildert, ist ein Bei- spiel dafür –, votierten die Erziehungsberechtigten eindeutig für die Wiedereinrichtung konfessionsgebundener Schulen, ein Wunsch, der mit dem Zuzug oftmals protestantischer Flüchtlinge und Vertriebener imLaufe des Jahres 1946 von Seiten beider christ- lichen Religionen an Intensität zunahm. Bereits Ende März 1946 konnten die Eltern auf Grundlage einer Verfügung der Militärregierung darüber entscheiden, ob ihre Kinder wieder eine konfessionelle Schule besuchen sollten. In Hochneukirch entschieden sich 96 Prozent von ihnen für eine Neueinführung dieser Schulform. 374 In Bedburdyck beschloss der Gemeinderat am 28. Mai 1946 einstimmig die Einrichtung einer katholischen Schule. 375 In Jüchen hatte man bereits am 5. November 1945 die evange- lische Volksschule mit 54 Schülerinnen und Schülern – 1939 waren mehr als 80 Protestanten unterrichtet worden - in einem Klassen- zimmer der katholischen Schule neu eröffnet. Der Besuch nahm im folgenden Jahr erheblich zu: „Im Oktober 1946 begann der Zustrom der Ostflüchtlinge und die Schülerzahl stieg ständig“, heißt es in der Jüchener Gemeindechronik. „Fast alle deutschen Stämme sind jetzt vertreten: Sachsen, Ostpreußen, Schlesier, Schwa- ben, Holsteiner und Pommern, und jeder verrät die Mundart seines Stammes. Es sind meistens verhärmte Kinder, die schon viel Leid erfahren und von denen manche vier Jahre keine Schule mehr be- sucht haben. In anerkennenswerter Weise suchten unsere Bauern- kinder die leibliche Not zu lindern. Sie brachten zweimal in der Woche ein Paket mit Butterbroten, so dass jedes Kind jeden Mor- gen eins erhielt.“ Es dauerte bis zum 15. April 1947, bis die evangelische Volks- schule ihren ungeliebten Gaststatus im katholischen Schulgebäude aufgegeben und in die während des Krieges stark beschädigte evan- gelische Schule zurückkehren konnte. Gleichzeitig wurde eine zweite Lehrerstelle eingerichtet und mit einem Flüchtling besetzt. Allerdings mussten die mittlerweile 115 Schülerinnen und Schüler zunächst in einem einzigen Klassenzimmer unterrichtet werden, „weil der Holzmangel die Instandsetzung des arg mitgenommenen zweiten Schulsaals sehr erschwerte“. Es sollte noch bis Mitte Juli 1949 dauern, bis der zweite Klassenraum wieder in Betrieb ge- nommen werden konnte. Zu diesemZeitpunkt war die Schülerzahl auf 134 angestiegen, von denen 59 Flüchtlingskinder waren. 376 In Hochneukirch öffnete die evangelische Schule mit 78 Kin- dern am 1. Juni 1948 ihre Pforten. Deren Einrichtung war durch den Zuzug von Ostflüchtlingen und die damit erheblich gewach- sene Zahl an protestantischen Schülerinnen und Schülern not- wendig geworden. So waren zu Beginn des Schuljahrs 1949/50 von den 88 Schülerinnen und Schülern 56 Flüchtlingskinder. Allein von den insgesamt 19 Mädchen der Klassen 1 bis 4 waren 16 aus demOsten vertrieben worden. Auch Lehrer Hans-Otto Steinhardt zählte zur Gruppe der Vertriebenen. Lehrmittel, so teilte er zur Eröffnung der Schule mit, seien „überhaupt nicht vorhanden“ und müssten aus den kriegsbedingt ohnehin stark geschrumpften Be- ständen der katholischen Schule ausgeliehen werden. Auch Ein- richtungsgegenstände waren Mangelware. Erst nach den Herbst- ferien 1949 bekam die Schule angesichts der verbesserten Wirtschaftslage einen „Schulschrank zur Aufbewahrung von Lehr- und Lernmittel“. Endlich, so heißt es in der Chronik, sei der einzige verfügbare Klassenraum nunmehr auch „voll möbliert“. Als dann die Schülerzahl im Schuljahr 1950/51 auf 99 Schüler angestiegen war, wurde ein zweiter Klassenraum immer dringender. Das be- deutete zugleich aber auch die Errichtung eines neuen Schulge- bäudes. Es dauerte aufgrund fehlender Finanzierungsmöglichkeiten aber noch bis April 1953, ehe der Grundstein gelegt und ein wei- teres Jahr, bis die Schule endlich eingeweiht werden konnte. Auch andere, eigentlich selbstverständliche Entwicklungen verliefen eher schleppend. Erst am 22. Februar 1953 konnte die evangelische Schule Hochneukirch ihren ersten Elternabend der Nachkriegszeit veranstalten. Zu diesemAnlass wurde auch eine Sammlung durch- geführt, so dass anschließend 50 DM „zur Linderung der Not der Ostzonenflüchtlinge nach Berlin“ überwiesen werden konnten. 377 In Otzenrath wurden gegen Ende 1946 insgesamt 216 Schüle- rinnen und Schüler unterrichtet, wobei allein zwischen dem 8. Juli und dem 17. Dezember des Jahres 34 zumeist evangelische Flücht- lingskinder hinzukamen. Ostern 1947 zählte man dann bereits 231 Schüler, so dass man im Betsaal des evangelischen Pfarrhauses einen dritten, provisorischen Schulraum einrichten musste. „Auf Wunsch der Eltern“, so heißt es in der Schulchronik, sei dann zum 1. Mai 1947 wieder eine evangelische Volksschule eingerichtet worden, nachdem sie - damals lediglich 17 Schüler zählend - 1939 aufgelöst worden war. Sie wurde beim Neustart von immerhin 75 Kinder aus Otzenrath und Spenrath besucht, die meisten von ihnen Flüchtlinge. 378 Was sich in der Chronik der katholischen Volksschule Otzenrath als ruhiger, harmonisch verlaufener Prozess ausnimmt, gestaltete sich real augenscheinlich weit weniger geradlinig. In der Chronik der reaktivierten evangelischen Dorfschule heißt es einleitend, sie sei am 1. Mai 1947 mit 76 Kindern wieder eröffnet worden, die bis dahin die katholische Schule besucht hätten. Allerdings, so eine erste gravierende Einschränkung, habe das vorhandene Schul- gebäude noch nicht wieder benutzt werden können. „Der eine Klassenraum, in stark beschädigtemZustand, war mit einer Klasse der katholischen Schule belegt. Der zweite Klassenraumwar durch Kriegseinwirkung so stark beschädigt, dass er unbenutzbar war.“
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