Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

253 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 Daher sei der Unterricht „bis zur Regelung der Raumfrage“ zu- nächst imBetsaal des evangelischen Pfarrhauses abgehalten worden. Das war allerdings lediglich eines der zahlreichen Hindernisse auf dem holprigen Weg zum halbwegs normalen Schulbetrieb: „Es fehlen alle und jegliche Lehr- und Lernmittel. Da der größte Teil der Kinder Flüchtlinge waren, fehlten Lese- und Rechenbücher vollständig. Die Kinder schrieben auf Schieferbruch, der mir von einem Dachdecker überlassen worden war. Für die Wandtafel musste Schneiderkreide verwendet werden. Es war weder ein Spiel- hof noch Abortanlagen vorhanden.“ Aber nicht nur die Schüler mussten improvisieren. „Für die Lehrerin war im Schulgebäude eine Wohnung freigemacht worden. Die schlimmsten Schäden wurden behoben. Es war aber kein elektrisches Licht in Ordnung und in den Fenstern fehlten die Scheiben und keine Tür hatte ein Schloss.“ Es dauerte bis zum 20. Juli 1947, bis der Betsaal verlassen und der Unterricht ins Schulgebäude verlegt werden konnte. Der Gewinn an Raum- und Unterrichtsqualität hielt sich aber dennoch in engen Grenzen. Der verfügbare kriegsbeschädigte Klassenraum sei „sehr verwahrlost und schmutzig“ gewesen. Auch sonst lag offenbar alles im Argen: „Ein alter baufälliger Schrank wurde ge- liehen. Er musste auf dem Fußboden vernagelt werden, damit er nicht umfiel und Unglück anrichtete.“ 379 In Gierath dauerte es bis ins Jahr 1950, ehe eine evangelische Volksschule eingerichtet wurde. Zu Ostern 1950 hatte die Ge- samtzahl der im Dorf zu unterrichtenden Kinder 188 betragen, unter ihnen 44 evangelische. Einerseits um Geld zu sparen - die Gemeinde Bedburdyck musste für die Erteilung des evangelischen Religionsunterrichts an den Schulen der Gemeinde an drei Wo- chentagen durch eine Lehrkraft aus Kelzenberg erhebliche Mittel aufwenden -, andererseits aber auch auf Initiative aus Eltern- und Flüchtlingskreisen wurde die (Wieder-) Einführung einer evange- lischen Schule in Gierath lebhaft diskutiert und von der Gemein- devertretung Bedburdyck schließlich am 4. April 1950 die Ein- richtung einer „protestantischen Klasse“ beschlossen. 380 „Auch seitens der Kirche und der Elternschaft wird eine selbständige evan- gelische Schule gefordert, und der Anteil der evangelischen Kinder rechtfertigt diese Forderung.“ „Endlich ist es soweit!“, heißt es hierzu in der Schulchronik. Die Aufsichtsbehörde hatte die Ein- richtung einer einklassigen evangelischen Schule bewilligt, wobei die katholische Einrichtung zugleich von vier auf drei Klassen zu- rückgefahren wurde. Da nun aber kein externer Lehrer für den evangelischen Religionsunterricht mehr zu bezahlen war, sparte die Gemeinde Bedburdyck durch diese Maßnahme jährlich rund 1.200 DMein. Schulleiter wurde Heinrich Lenhoff aus Kelzenberg, der kurz zuvor am 2. Januar 1950 aus russischer Kriegsgefangen- schaft zurückgekehrt war – auch das ein Stück beispielhafter Nach- kriegsgeschichte. Zufrieden war man auf evangelischer Seite mit den Umständen des Neubeginns aber keineswegs. Hatten die 17 evangelischen Gie- rather Schülern 1938 über ein eigenes Schulgebäude verfügt und demLehrer eine geräumige Dienstwohnung zur Verfügung gestan- den, konnten sich nun 44 Schülerinnen und Schüler erst nachmit- tags in einem der drei Klassenzimmer der katholischen Schule zu- sammenfinden, weil der für ihrenUnterricht eigentlich vorgesehene vierte Raum zu dieser Zeit noch von Flüchtlingen belegt war. „Wir stehen also buchstäblich vor dem Nichts! Weder Klassenraum, Lehrmittel und Schulbücher, die den Anforderungen entsprechen, sind vorhanden“, klagte Lehrer Lenhoff, der wegen der fehlenden Dienstwohnung täglich zu Fuß aus dem rund vier Kilometer ent- fernten Kelzenberg nach Gierath pendeln musste. Besserung war Die neue evangelische Volksschule in Hochneukirch mit Turnhalle, um 1957 Blick auf die evangelische Kirche in Otzenrath, 1968. Rechts sieht man die evan- gelische Volksschule.

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