Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
254 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 nen Kreise“, um die „so sehr im Argen liegenden Verhältnisse der neuen evangelischen Schule zu besprechen und Wege zu einer be- friedigenden Lösung zu suchen“. Vermutlich erklärte sich der Bauer bei dieser Gelegenheit bereit, die Flüchtlinge auf seinem Gut auf- zunehmen. Tatsächlich eröffnete sich laut Schulchronik nun ein „Lichtblick für den Unterricht nach den Ferien“. „Das Lehrerzimmer wird in den nächsten Tagen von Flüchtlingen geräumt und auch die in unserem Klassenraum wohnende Familie D. soll am 1.8. umquar- tiert werden. Damit wird dann die ganze Schule frei und ihrem ei- gentlichen Bestimmungszweck wieder zugeführt.“ Und es gab wei- teres Erfreuliches zu berichten: „Auch die Kinder haben jetzt Lehrbücher in den Händen. Aus dem Fonds für freie Lernmittel wurden seitens der Gemeinde 120 DM zur Verfügung gestellt“, wobei es offenbar der Amtsinspektor und spätere Gemeindedirek- tor Justen war, der sich in Schulfragen besonders engagiert und entgegenkommend zeigte. „Endlich ein eigener Klassenraum!“, frohlockte Lehrer Lenhoff dann am 22. August 1950, dem ersten Schultag nach den Som- merferien. „So ist es doch noch wahr geworden: Wir haben unseren Klassenraum. Glücklich und froh sind wir, dass wir nun endlich vormittags Unterricht abhalten können.“ Damit war jedoch noch längst nicht das Ende von Engpässen und daraus resultierenden Problemlagen erreicht, wie aus einer Eingabe des Pädagogen an Schulrat Pfaffen vom 26. August 1950 hervorgeht: „Zum Schul- beginn hatte mir die Gemeindeverwaltung Bedburdyck die Aus- stattung des Raumes mit Bänken und sonstigem Inventar zugesagt. zunächst nicht in Sicht. „Noch immer arbeiten wir unter den primitivsten Verhältnissen“, notierte er am 2. Juli 1950. „Unser Klassenraum ist noch immer von Flüchtlingen belegt.“ Amtsdirektor Kessel verspreche immerhin Abhilfe bis zu den Sommerferien. Bis dahin fand der Unterricht wei- terhin zwischen 13 und 17 Uhr am Nachmittag statt, was angesichts der sommerlichen Hitze ei- gentlich unzumutbar war: „Die Kinder sind in der Gluthitze des Nachmittags müde und abge- spannt.“ Unter solchen Umständen war die Dorf- harmonie ernsthaft gefährdet: „Von Seiten der El- tern werden bereits Klagen laut über den jetzigen unhaltbaren Zustand. Man will zum Schulstreik aufrufen.“ Man suchte händeringend nach einer dorfin- ternen Lösung, umdurchUmsiedlung der Flücht- linge den so dringend benötigten vierten Klas- senraum freizumachen. Am 5. Juli 1950 trafen sich auf Vermittlung und unter dem Vorsitz des Jüchener Pastors Haarbeck Amtsdirektor Kessel, Lehrer Lenhoff und Landwirt Steinfarz sen. vom Gut Stammheim zu einer Besprechung „im klei- Das, was ich jedoch am Morgen des 22.8. vorfand, setzte mich in helles Erstaunen. Für meine 47 Kinder waren nicht mehr als 30 Sitzplätze vorhanden. Die Bänke, aus allen Schulen der Gemeinde Bedburdyck zusammengesucht, sind in denkbar schlechtem Zu- stand. Ein Klassenschrank ist nicht vorhanden. Eine einzige kleine Tafel, auf einem Gestell stehend, soll für den Unterricht von 8 Jahrgängen ausreichen. Es ist infolgedessen unmöglich, einen ge- ordneten Unterricht abzuhalten. Aufgaben für die Stillbeschäfti- gung können nicht angeschrieben werden, da die Tafel immer für die mündliche Arbeit mit einer Abteilung gebraucht wird.“ Auf- grund der fehlenden Sitzplätze, so berichtete der Lehrer weiter, sei er gezwungen, das 4. bis 8. Schuljahr bereits um 11 Uhr nach Hause zu entlassen, um dann die unteren drei Jahrgänge zu unter- richten. Damit würden der älteren Gruppe täglich nur drei, den jüngeren Jahrgänge gar nur zwei Stunden erteilt. Nachmittagsun- terricht sei nicht möglich, weil er dafür stets zu Fuß von Kelzenberg kommenmüsse. Trotz aller Bemühungen sei es ihmnämlich bislang noch immer nicht gelungen, in Gierath selbst eine Wohnung zu finden, weil alle neuerstellten Einheiten mit „Flüchtlingszuschüs- sen“ erbaut worden seien und ihm – obwohl „Spätheimkehrer“ – verschlossen blieben. Nach dem Mangel an Baumaterialien in der Zeit bis zur Wäh- rungsreform waren es nach dem 20. Juni 1948 insbesondere die schmalen kommunalen Haushalte und somit die fehlenden finan- ziellen Mittel, die die von allen Seiten erwünschten Fortschritte verhinderten. Der Aufwand für die dringend notwendige Neu- ausstattung der Gierather evangelischen Schule, so berichtete Ge- Gut Stammheim in Gierath, undatiert
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