Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
255 VOR ORT: JÜCHEN NACH 1945 meindedirektor Kessel am 7. September 1950 im Rahmen einer Elternversammlung, würden sich auf 2.900 DM belaufen, von de- nen die Bezirksregierung die Hälfte übernehmen würde. Die Bed- burdycker Finanzlage sei insgesamt jedoch „sehr angespannt“. Sie besserte sich offenbar grundlegend, nachdemKessel in Ruhestand gegangen und am 1. Dezember 1950 vomneuen Gemeindedirektor Justen abgelöst worden war. „Für unsere Schule bedeutete dieser Wechsel einen Fortschritt“, heißt es in der Chronik. „So wurden nunmehr die neuen Klassenmöbel bestellt, die Renovierung der Klasse in Auftrag gegeben und ein Klassenschrank eingebaut.“ Tat- sächlich trafen die Möbel am 25. Januar 1951 in Gierath ein: „25 Schultische, 25 Tintenfässer, 51 Schulstühle, 1 Lehrerpult, 1 Pa- pierkasten, 1 Wandschiebetafel, 1 Langwandtafel, 1 Korkfries, 1 Wandtafelwinkel, 1Wandtafellineal“, notierte Lehrer Lenhoff stolz und akribisch in der Schulchronik. Dennoch dominierte weiterhin der Mangel den Schulalltag. „Nun ist unser Klassenraum in tadellosemZustand“, hieß es weiter. Doch der sehr kalte Winter dämpfte alle aufkeimenden Hoffnun- gen, denn bereits am 19. Januar 1951 wurde die Gierather Schule wegen Kohlenmangels vorübergehend geschlossen. „Leider haben wir immer noch keine Kohlen, so dass ein normaler Schulbetrieb noch nicht aufgenommen werden kann.“ Auch sonst hielten sich kleine Fortschritte und fortgesetzte Im- provisation noch die Waage: Unter dem 21. März 1951 konnte Lenhoff berichten, dass er mit seiner Familie nun endlich seine neueWohnung imDachgeschoss der Schule habe beziehen können. Hierbei handelte es sich jedoch lediglich um ein Provisorium. Die Wohnung werde „später, wenn die Gemeinde in der Lage ist, eine andere Lehrerwohnung zu bauen – der Grundstein zumLehrerhaus wurde am 31. März 1953 gelegt –, dem Hausmeister übergeben werden, der jetzt noch imKellergeschoss der Schule wohnt“. Haus- meister P. und seine Familie waren Flüchtlinge aus Ostpreußen, „wo er einen Bauernhof von 200 Morgen besaß“. Mitte Februar 1952 heißt es in der Schulchronik: „Durch Fleiß und ausdauernde Arbeit ist er jetzt wieder zu einem kleinen Besitz von 4 Morgen gekommen“, auf denen er zwischen Gierath und Bedburdyck „ein eigenes schönes Häuschen“ errichtet habe. Damit hatte das „Kellerdasein“ im Gierather Schulgebäude je- doch kein Ende, denn auch der neue Hausmeister R., „Heimat- vertriebener aus Pommern“, musste dort mit seiner Familie wohnen. Als dessen Tochter im Mai 1952 heiratete, bat sie Lehrer Lenhoff um die Nutzung des Klassenzimmers für die Feierlichkeiten, „da die Wohnung der Eltern im Kellergeschoss der Schule zu dürftig sei“. – In Gierath wie andernorts ging es nur sehr langsam auf- wärts. 381 In Garzweiler schließlich wurde eine evangelische Volksschule wegen des Flüchtlingszuzugs – zu diesem Zeitpunkt wohnten 35 evangelische Kinder imOrt - erst am 4. Mai 1954 eröffnet. Lehrer Wilhelm Schwendler war selbst „Flüchtling aus der Sowjetzone“. Die neue Einrichtung fand Unterkunft im Gebäude der katholi- schen Schule, deren Materialien sie auch mitnutzen musste. Ein von allen Seiten dringend geforderter Neubau kam jedoch zunächst nicht zustande. Die katholische Elternschaft in Garzweiler stellte daraufhin angesichts der „unwürdigen“ beengten Zustände hin- sichtlich des Baubeginns ein Ultimatum bis zum 5. Juni 1954 und drohte der Regierung in Düsseldorf – wie bereits die Erziehungs- berechtigten in Gierath im Jahr 1950 – ansonstenmit einem Schul- streik. Das wiederum führte laut evangelischer Schulchronik zu Konflikten mit den evangelischen Eltern und Vertretern, denen die Resolution zu „scharf “ und zu „unsachlich“ war. Resultat war, dass die evangelische Schulpflegschaft eine eigene Resolution Rich- tung Düsseldorf sandte, in der sie in moderaterer Form darum bat, „den Schulneubau nun endlich voranzutreiben“. Beide Eingaben blieben ohne Antwort. Stattdessen erschien nach einigenWochen eine Delegation aus Düsseldorf, um einen Vorschlag vor Ort in Augenschein zu neh- men, der offenbar von katholischen Kreisen ins Spiel gebracht worden war. Als Übergangslösung für einen – wie der Chronist ironisch anmerkte – „würdigen“ Klassenraumwar offenbar die Ke- gelbahn der Gaststätte Wimmers ins Auge gefasst worden, „die außerdem an vier Abenden in der Woche zum Kegeln benutzt wurde“. Lehrer Schwendler lehnte angesichts eines solchen Plans „jede Verantwortung ab, falls die Regierung ihr Einverständnis zu diesem Vorhaben geben sollte“. Im Oktober 1954 wurde schließlich mit dem Bau einer neuen evangelischen Schule begonnen, am 29. November bereits Richtfest gefeiert. Danach kam es allerdings zu erheblichen Verzögerungen, und der sichtlich verärgerte Schulchronist Schwengler beklagte Anfang 1955 eine eigenartige Zweckentfremdung des unfertigen Gebäudes: „Der neugierige Beschauer sieht imVorbeigehen einige Wäschestücke im künftigen Klassenraum wedeln. Er ist zunächst einmal Wäschetrockenplatz für die im nebengelegenen alten evan- gelischen Schulgebäude hausenden Familien.“ Am 23. April 1955 konnte die Schule dann endlich offiziell eingeweiht werden. Die Verärgerung des Lehrers rührte wohl nicht zuletzt daher, dass das alte Schulgebäude von vier Familien bewohnt wurde, ihm selbst aber keine Dienstwohnung zur Verfügung stand. Auch im Schulneubau war eine solche nicht vorgesehen. Schwengler schimpfte mit Blick auf die katholische Mehrheitsbevölkerung: „Die Gemeinde ist eben zu arm, obwohl jeder Bauer seinen eigenen PKW fährt! So ist der evangelische Lehrer gezwungen, noch im Jahr 1955 in Untermiete zu wohnen, ohne mit seiner Frau einen eigenenHausstand führen zu können.“ An anderer Stelle der Chro- nik ist der Ton moderater: Die unter einemDach untergebrachten beiden Garzweiler Volksschulen hätten, so betonte der evangelische Schulleiter, gut und friedlich zusammengearbeitet. „Beide Lehrer- teile haben dem Dorf demonstriert, wie Menschen verschiedener Konfession, aber doch eines christlichen Glaubens, zusammenar- beiten können.“ 382
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