Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
268 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN Information mit, dass in Kürze mit weiteren Flüchtlingen „unbe- dingt zu rechnen“ sei. Zunächst seien 250 zugewiesene Personen im Schloss Hülchrath untergebracht worden. 410 Nur drei Tage später wurde den Stadt-, Amts- und Gemeinde- direktoren imKreisgebiet am 30. Oktober 1947 morgens um kurz nach 9 Uhr die Ankunft neuer Flüchtlingstransporte angekündigt und sie für den gleichen Nachmittag zu einer Dienstbesprechung nach Grevenbroich gebeten. Hier wurde ihnen dann mitgeteilt, dass die Ankömmlinge in „unterbelegtem Wohnraum“ oder in Sammelquartieren unterzubringen seien, wobei natürlich jeder wusste, dass es in den meisten Orten schon längst keine freien Zimmer mehr gab. Auch sonst blieben die Gemeinden weitgehend auf sich gestellt: „Einrichtungsgegenstände, Betten, Decken und Gerät können nicht gestellt werden, desgleichen keine Kohlen.“ Das einzige, was man wusste, war, dass der erste der zu erwartenden Transporte aus 200 Personen bestehen würde, die in Korschen- broich ankommen und von dort auf die Gemeinden Glehn, Holz- heim, Bedburdyck, Kapellen und Korschenbroich selbst verteilt werden sollten. „Über die Einteilung der einzelnen Gemeinden verhandeln die Bürgermeister und Direktoren unter sich.“ 411 So wollten die Vertreter der Kommunen aber nicht mehr mit sich umspringen lassen. Am 5. November 1947 richtete Amtsdi- rektor Lesaar ein Telegramm an den nordrhein-westfälischen So- zialminister Amelunxen, in dem er imNamen der Amtsvertretung Jüchen und der Gemeindevertretung Hochneukirch „schärfstens gegen die Zuweisung weiterer Flüchtlinge“ protestierte, weil „Woll- decken, Bekleidungsstücke und Betten vollkommen fehlen“ wür- den. 412 – Erfolg dürfte dem Einspruch allerdings kaum beschieden gewesen sein. Solche Eingaben entwickelten sich jedoch zu einem weitver- breiteten zeittypischen Phänomen, das ab 1946 für einige Jahre zu einer Art „Dauerbrenner“ in der öffentlichen Diskussion wurde. Seitens der Kreis-, insbesondere aber der besonders betroffenen einzelnen Gemeindeverwaltungen glaubte man schnell, die Grenze der Aufnahmefähigkeit und des Zumutbaren erreicht zu haben. Einen ersten deutlichen Beleg dafür bot die Kreistagssitzung am 14. August 1946, in deren Verlauf die Grevenbroicher Kreisver- waltung mit der Rückschickung kurzfristig angekündigter Trans- porte aus den Sammellagern drohte, weil sie sich bei der Verteilung schlechter als andere Landkreise gestellt sah. 413 Ein solches Ver- halten mündete nahezu zwangsläufig in einen Konkurrenzkampf der einzelnen Kommunen, von denen sich ohnehin viele ungerecht behandelt und insbesondere in der Flüchtlingsfrage übervorteilt fühlten. In diesem Sinne berichtete der Jüchener Amtsbürgermeis- ter Schiffer in der Amtsvertretersitzung am 16. Dezember 1946 über den Verlauf der vorausgegangenen Sitzung des Kreisflücht- lingsausschusses. „Es wurde dort erläutert, dass die einzelnen Ge- meinden des Kreises ungleich belastet seien und unbedingt ein Lastenausgleich geschaffen werden müsse.“ Der Ausschuss war zu dem Schluss gekommen, dass rund 400 Flüchtlinge aus überlasteten Gemeinden umgehend auf andere verteilt werden müssten, wovon sich wiederum Jüchen unmittelbar bedroht sah. Unter anderem, so wurde erläutert, sei Norf sehr stark überbelegt, während Jüchen „verhältnismäßig zu wenige Flüchtlinge“ habe. Das rief umgehend heftigen Protest auf den Plan: „Herr Bürgermeister Schiffer weist diese Gegenüberstellung energisch ab mit der Erinnerung, dass Jü- chen auch von keiner anderen Gemeinde noch vomKreis geholfen worden ist, als ca. 1.200 Ausländer über ein Jahr in Jüchen hausten, und niemand wird sich an einem Ausgleich bei den Schäden, die der Bevölkerung durch die Polen entstanden sind, beteiligen.“ Im- merhin erklärten sich die Amtsvertreter doch noch bereit, trotzdem zehn weitere Flüchtlinge von der Gemeinde Norf zu überneh- men. 414 Jüchen stand in dieser Frage jedoch keinesfalls allein, sondern sah sich als Teil einer sich in dieser Frage entwickelnden kreisweiten Solidargemeinschaft. Das wurde im Frühjahr 1947 nochmals sehr deutlich, als Oberkreisdirektor Gilka im Rahmen einer Bürger- meisterversammlung am 13. Mai 1947 bekanntgab, „dass sowohl die Kreisverwaltung als auch verschiedene Stadt-, Amts- und Ge- meindedirektoren den Kreis-Residenz-Offizier darauf hingewiesen haben, dass der hiesige Landkreis von allen linksrheinischen Kreisen am stärkstenmit Flüchtlingen belegt ist und eine weitere Einengung der einheimischen Bevölkerung nicht mehr tragbar erscheine“. 415 Wie andernorts wohl auch, reagierte man in Bedburdyck umge- hend auf diese Verlautbarung. Nachdem der Gemeindedirektor in einer Gemeinderatssitzung am 25. Juli 1947 einen „Bericht über die Flüchtlingslage innerhalb der Gemeinde“ gegeben hatte, ver- abschiedeten die Anwesenden folgende Resolution: „Die Ge- meinde ist mit Flüchtlingen überbelegt. Es ist daher unbedingt erforderlich, dass Flüchtlinge umquartiert werden und zwar genü- gen da nicht 50 Flüchtlinge, sondern es müssten glatt 50% abge- zogen werden. Die Verwaltung wird ersucht, eine entsprechende Eingabe unter Beifügung der Resolution an den Kreis zu ma- chen.“ 416 Solche Resolutionen zählten auch in den kommendenMonaten und Jahren zum festen Instrumentarium kommunaler Meinungs- äußerungen. Als beispielsweise der Bedburdycker Bürgermeister den Gemeinderat am 13. November 1948 wiederum über weitere angekündigte Flüchtlingszuweisungen unterrichten musste, ver- abschiedeten dessen Mitglieder erneut eine Resolution: „Die Ge- meinde Bedburdyck ist mir ca. 600 Flüchtlingen belegt. Es ist bisher noch nicht möglich gewesen, diese Flüchtlinge restlos men- schenwürdig unterzubringen. Eine Neuzuweisung von Flüchtlingen wird die Lage unhaltbar machen. Die Verantwortung für die men- schenunwürdige Unterbringung, die zwangsläufig erfolgen müsste, kann nicht übernommen werden. Die Gemeindevertretung bittet die Kreisverwaltung alles zu tun, um eine Neuzuweisung zu ver- meiden. 417 Die Flüchtlingszahlen imKreisgebiet und in den einzelnen Or- ten nahmen bis 1950 folgende Entwicklung:
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