Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

271 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN Interessant und für dieMobilität der Nachkriegsjahre aufschluss- reich ist eine Aufstellung der Bevölkerung im Kreisgebiet und in den Kommunen im Jahr 1950, die zugleich den Wohnsitz zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns am 1. September 1939 als Bezugs- größe berücksichtigt. Damit hatte seit Beginn des Zweiten Weltkriegs und verstärkt seit Beginn des schweren Bombenkriegs im Frühjahr 1943 rund ein Drittel der Kreisbevölkerung dauerhaft denWohnort gewech- selt, wobei die entsprechendenWerte in den hier näher untersuch- ten Dörfern der heutigen Gemeinde Jüchen – bis auf Garzweiler - deutlich unter demKreisdurchschnitt lagen. Den größten Teil der Um- und Zuzüge machten dabei aber nicht jene aus, die aus den deutschen Ostgebieten und dann aus der SBZ in den Westen ka- men, sondern jene, die innerhalb des Kreises Grevenbroich, von NRW oder des Bundesgebiets den Wohnsitz gewechselt hatten. Von den knapp 30 Prozent an Zuzügen nach Jüchen stammten beispielsweise lediglich 8,3 Prozent aus dem „Osten“, 1,3 Prozent aus der SBZ und 3,2 Prozent aus demnicht näher definierten „Aus- land“. 422 Die Werte für die übrigen Gemeinden lassen sich den Ta- bellen entnehmen undmit der Entwicklung in anderen Kommunen sowie jener im Kreisgebiet insgesamt vergleichen. Die Zahlen zeigen nochmals in aller Deutlichkeit, wie umfas- send eine zumeist ungewollte Mobilität die deutsche Nachkriegs- gesellschaft geprägt hat. Die Neuß-Grevenbroicher Zeitung sprach daher Mitte November 1950 vomKreisgebet noch immer als einem „großen Armeleutehaus“, in dem noch viel zu tun bleibe: „Der Landkreis mit 140.000 Einwohnern ist wie die ganze Bundesre- publik ein großes Armeleutehaus. Nahezu die Hälfte seiner Ein- wohner ist vom Geschick so hart angeschlagen worden, dass sie Hilfe braucht. Mehr als 20.000 Heimatvertriebene warten darauf, dass ihnen geholfen wird. 14.000 Bombengeschädigte pochen auf eineWiedergutmachung. Mehr als 20.000Menschen hat der Krieg so hart getroffen, dass ihnen gerechterweise zuerst geholfen werden muss, weil sie Gesundheit und Arbeitskraft verloren haben. Dazu kommen die vielen Altersrentner, die von ihren kargen Groschen nicht leben und nicht sterben können.“ „Die Scharen der Verges- senen und Benachteiligten, die Heimatvertriebenen und Ausge- stoßenen“, so hieß es abschließend, würden ihr Schicksal aber „meist mit Geduld“ tragen. 423 Statt Entspannung folgte aber – wie an anderer Stelle darge- stellt 424 - mit Beginn der 1950er Jahre zunächst eine weitere Zu- wanderungswelle aus der sowjetisch besetzten Zone. Am 14. April 1953 konnte man in der Neuß-Grevenbroicher Zeitung von der ersten Zuweisung von insgesamt 631 Flüchtlingen aus der „Ost- zone“ ins Kreisgebiet lesen, von denen gerade die ersten 433 mit vier Transporten eingetroffen seien. Für sie waren im Rahmen der Aktion „Notunterkunft ‚Ost’“ elf neue Lager errichtet worden, in die sie nun eingewiesen wurden. Damit sollten laut Presse die Zu- weisungen zumindest für ein Vierteljahr abgeschlossen sein. 425 Bis zum 20. November 1953 hatte sich die Zahl der „Sowjetzonen- flüchtlinge“ im Kreisgebiet aber bereits auf 1.160 erhöht, was in der Bevölkerung angesichts von deren angeblich bevorzugter Be- handlung zunehmend Unruhe und Unzufriedenheit nach sich zog. 426 Ende Februar 1955 zog die Neuß-Grevenbroicher Zeitung schließlich eine „Bilanz des gutenWillens“ und berichtete, dass in BERLIN OSTEN +SAAR AUSLAND GESAMT AUSWÄRTS 8 443 126 1227 9 356 73 1006 13 606 153 1693 41 503 192 1847 11 35 14 230 12 399 126 1075 8 175 53 507 21 586 121 1958 9 113 41 420 27 337 99 1012 18 805 142 2037 16 714 169 1806 836 15828 4370 48027 OSTEN +SAAR AUSLAND GESAMT AUSWÄRTS 10,6 3,0 29,2 11,9 2,4 33,5 10,0 2,5 28,0 8,3 3,2 29,9 3,8 1,5 24,8 11,9 3,8 32,0 9,8 3,0 28,4 9,5 2,0 30,4 9,0 3,3 33,5 9,9 2,9 29,6 12,8 2,3 32,5 12,8 3,0 32,4 11,0 3,0 33,4

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