Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

den zurückliegenden beiden Jahren insgesamt 1.485 Flüchtlinge im Kreisgebiet aufgenommen worden seien. Damit sei das „Soll“ erfüllt. „Vorläufig wenigstens.“ Etwa 300 dieser SBZ-Flüchtlinge seien noch immer in zwölf über das Kreisgebiet verteilten Lagern untergebracht. 427 Auf jenes in Neuenhoven wird noch ausführlich zurückzukommen sein. Damit war das Ende aber längst nicht erreicht. Immer wieder wurden neue Aufnahmekontingente definiert und mussten von den Gemeinden aufgenommen und untergebracht werden. „Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab. Seine Wellen dringen bis ins kleinste Dorf vor. Menschen aus demOsten flüchten vor Drangsal und Angst und suchen die Freiheit. Im freien Westen hoffen sie Arbeit undWohnung zu finden“, berichtete die Neuß-Grevenbroi- cher Zeitung Ende Mai 1956 mit Blick auf die aus der DDR kom- menden Flüchtlinge. Seit dem 1. März 1953 waren bis zu diesem Zeitpunkt 2.210 Flüchtlinge im Kreis Grevenbroich registriert worden. „Zur Zeit beschäftigt sich die Kreisverwaltung mit der Abwicklung des ‚Solls 1956‘, des sechsten seit drei Jahren“, das wei- tere 425 Flüchtlinge umfasse. Zugleich wurde betont, dass die „Ar- beitsfähigen unter ihnen“ von der Industrie umgehend „aufgesogen“ würden, denn an Arbeitsplätzen sei „in der blühenden Wirtschaft kein Mangel“. Völlig anders sah es hingegen nach wie vor mit Wohnraum aus, an dessen Beschaffung „der Kreis in Verbindung mit Regierung, Gemeinden und meist auch der interessiertenWirt- schaft“ mit Hochdruck arbeiten würde. 428 – Beide Phänomene werden uns an anderer Stelle noch intensiver beschäftigen. Wie dieser neue Zustrom von „SBZ-Flüchtlingen“ von der orts- ansässigen Bevölkerung im politischen Klima des „Kalten Krieges“ aufgenommen wurde, ist, weil kaum überliefert, nur schwer zu fas- sen. Einen kleinen Eindruck vermittelt ein Eintrag in der Chronik der evangelischen Volksschule Gierath aus dem Jahr 1953, als diese neue Welle gerade einsetzte und Lehrer Lenhoff sich angesichts der Einschulung der Kinder von zwei neu imDorf angekommenen Familien veranlasst sah, „mit ein paar Worten auf das Problem der Ostzonenflüchtlinge einzugehen“: „Täglich verlassen 2.000-3.000 Menschen die Deutsche Demokratische Republik, um sich im Westen unseres Vaterlandes, in der Bundesrepublik Deutschland, eine neue Heimat und neue Arbeitsplätze zu suchen. Die meisten fliehen nach Westberlin, werden hier in Lagern gesammelt und dann mit Flugzeugen internationaler Verkehrsgesellschaften in die Bundesrepublik befördert. Was veranlasste nun all diese Menschen, ihr Hab und Gut zurückzulassen und ihre Heimat im Osten auf- zugeben? Der Landwirt S. z.B. besaß in der Umgebung vonMeißen einen Bauernhof von ca. 70 ha. Er versuchte jahrelang, seinen Besitz vor der Kollektivierung zu bewahren. Als er dann befürchten musste, eines Tages von der Volkspolizei abgeholt zu werden, setzte er sich nach Westen ab. Ähnliches berichten alle Ostzonenflücht- linge. Sie fliehen, weil das Leben jenseits der Zonengrenze für sie unerträglich geworden ist. Mangel an Lebensmitteln, Kartensys- teme, Angst vor plötzlicher Verhaftung, Beschränkung der per- sönlichen Freiheit u.ä., das sind die Hauptgründe für die Flucht zum Westen. Für die Regierung der Bundesrepublik ist es im Au- genblick unmöglich, alle Flüchtlinge inWohnungen unterzubrin- gen. Die meisten müssen in Wirtshaussälen wohnen, die vorüber- gehend entsprechend umgebaut werden. Die unserer Gemeinde zugewiesenen Familien konnten bisher noch in Wohnungen un- tergebracht werden. So bekam die Familie S. zwei Räume bei dem Landwirt Lauffs in Stessen.“ 429 272 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN Ankündigung eines „Umsiedlungs-Transports“ und dessen Zuweisung nach Bedburdyck, September 1954

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