Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
279 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN dedirektoren des Landkreises mit der Militärregierung am 30. Ok- tober 1947 die Frage gestellt hatte, inwieweit Flüchtlingen die Bil- dung politischer Gruppierungen erlaubt sei, teilte der Kreis Resi- dent Officer Kerr dem Oberkreisdirektor am 8. November 1947 mit, dass solche Zusammenschlüsse nach wie vor verboten seien. „Derartige Organisationen oder Vereinigungen, die bereits gebildet wurden, sind ungesetzlich.“ Als diese Mitteilung am 14. November 1947 nach Jüchen weitergeleitet wurde, wies der Oberkreisdirektor ergänzend darauf hin, dass die dort zwischenzeitlich offenbar ins Leben gerufene „Interessengemeinschaft für Flüchtlinge“ nicht als politische Vereinigung anzusehen sei. „Es wird daher immer sorg- fältig zu prüfen sein, ob es sich um eine politische oder unpolitische Vereinigung handelt, die in Erscheinung tritt“. 461 Der konkrete Anlass für die Nachfrage des Amtsdirektors war offenbar eine Initiative von Otto Pietsch aus Jüchen, dem Lesaar am 2. Dezember 1947 mitteilte, die von ihm geleitete „Interessen- gemeinschaft für Ostvertriebene“ habe sich gemäß der britischen Vorgaben künftig „auf die Wahrung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Belange der Ostflüchtlinge zu beschränken“. In Jüchen schwelten offenbar schon länger sich auf die Person von Pietsch konzentrierende Konflikte, die ihren Ursprung ganz offen- bar in parteipolitischen Streitigkeiten auf kommunaler Ebene hat- ten. Ohne dass sich die Hintergründe beim derzeitigen Quellen- stand aufklären lassen, hatte Lessar bereits im Rahmen der Amtsvertretersitzung am 31. März 1947 erklärte, „dass der Flücht- lingsbetreuer Pietsch sein Amt parteipolitisch“ ausnutze. Daraufhin hatte die Amtsvertretung einenMisstrauensantrag gegen ihn gestellt und den Amtsdirektor beauftragt, dessen „Absetzung zu erwirken“. Als Flüchtlingsbetreuer sollte stattdessen offenbar ein der SPD an- gehörender Amtsvertreter eingestellt werden. 462 Auseinandersetzungen blieben in Jüchen aber augenscheinlich an der Tagesordnung und vergifteten ein Stück weit das dörfliche Klima. So hieß es im Protokoll der Amtsvertretersitzung vom 11. August 1947: „Um den endlosen Stänkereien von gewisser Seite ein Ende zu bereiten, wird demAmtsdirektor sowie allen Beamten und Angestellten der Amtsverwaltung ausdrücklich verboten, ir- gendein Schreiben oder eine Anfrage von Piert, Pietsch und Caspers zu beantworten oder zu einer von diesen Personen an eine höhere Dienststelle einschließlich der Militärregierung gerichteten Eingabe Stellung zu beziehen.“ Nach Lage der Dinge waren die drei na- mentlich Genannten Vertreter oder zumindest Sympathisanten der KPD. Der innerörtliche Konflikt war schon derartig eskaliert, dass Amtsvertreter Piert eine Klage gegen Amtsdirektor Lesaar angekündigt hatte. Der wurde nun ermächtigt, binnen Tagesfrist eine außerordentliche Sitzung der Amtsvertretung einzuberufen, sobald eine solche Anklageanschrift eingehen sollte, „damit die Amtsvertretung öffentlich Gegenklage wegen Gefährdung der öf- fentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit beschließen“ könne. - Da die Akte hierzu keine weiteren Schriftstücke enthält, ist anzu- nehmen, dass die Angelegenheit schließlich im Sande verlief. Allein schon diese nur bruchstückhaft überlieferten Auseinan- dersetzungen in Jüchen können als Beleg dafür gelten, wie kon- fliktträchtig alle mit demProblembereich „Flucht und Vertreibung“ verknüpften Angelegenheiten sein konnten und sich – insbesondere im Kontext des heraufziehenden „Kalten Krieges“ – für parteipo- litische Instrumentalisierungen anboten. Allerdings haben sich solche oft erbittert ausgetragene Streitigkeiten in den ohnehin eher dürftigen Quellen kaum niedergeschlagen und lassen sich in ihren Auswirkungen auf das kommunale Leben und die Stimmungslagen gegenüber den Neuankömmlingen kaum angemessen einschätzen. So muss jede Darstellung der konkreten Situation in den Dörfern und in deren Vertretungsgremien zwangsläufig lückenhaft bleiben. Andererseits dürften es aber nicht selten solche - rückblickend kaum fassbaren - Konflikte gewesen sein, die sich tief ins „Dorfge- dächtnis“ eingeprägt und den gegenseitigen Umgang in oft erheb- lichemMaße dauerhaft beeinflusst haben. Es dauerte analog der Vorgaben der britischenMilitärregierung offenbar bis zum Ende der 1940er Jahre, bis sich die neu an den Niederrhein Gekommenen auch in den Dörfern selbst stärker zu organisieren begannen. So lässt sich beispielsweise die „Interessen- gemeinschaft der OstvertriebenenHochneukirch“ nachweisen, die im April 1950 ihre Jahresversammlung abhielt. „Die Heimatver- triebenen rufen jene wenigen Familien, die noch nicht Mitglied sind, auf, in ihrem eigenen Interesse beizutreten, da nur ein ge- schlossener Block aller Ostvertriebenen Aussicht auf Erfolg bei den erwartenden Hilfs-Maßnahmen hat.“ 463 Und im Oktober des gleichen Jahres fragten die Verantwortlichen der seit Oktober 1948 bestehenden „Ortsvereinigung Otzenrath“ im „Landesverband der Ostvertriebenen“ angesichts offenbar fehlender Resonanz: „Ost- vertriebener!Warum stehst Du dem allmonatlichen TreffenDeiner Schicksalsfreunde und deren Organisation immer noch fern? Geht uns das Ringen um Heimat und Menschenrecht nicht alle an?“ Daher möge man doch 28. Oktober zur Jahreshauptversammlung in Buchackers Gaststätte erscheinen. „Anschließend: Gemütliches Beisammen sein anlässlich des zweijährigen Bestehens.“ 464 Orga- nisationen der „Ostvertriebenen“ gab es zu dieser Zeit nachweislich auch in Holzneukirch, Holz, Jüchen und Garzweiler, wobei einige dieser Vereinigungen offenbar auch eigene Jugendabteilungen un- terhielten. 465 Deren Arbeit verfolgte aber offenbar keinerlei poli- tische Absichten, sondern galt der gegenseitigen Information und insbesondere dem geselligen Beisammensein. Neben den jeweiligen Jahresversammlungen dominierte die Organisation von Busfahrten „ins Blaue“ und von „Bunten Abenden“ das dörfliche Engagement der Vertriebenenorganisationen, die stets auch versuchten, die ein- heimische Bevölkerung mit einzubeziehen – wahrscheinlich mit sehr überschaubaren Erfolgen.
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