Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

280 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN DIE PROBLEMFELDER Zu den zahlreichen, hier bereits an anderer Stelle dokumentierten „Problemfeldern“ der ersten Nachkriegsjahre gesellten sich für die Kommunen mit der Ankunft von immer mehr Flüchtlingen und Vertriebenen noch weitere schwerwiegende Aufgaben. Unter ihnen dürfte der zusätzliche Verwaltungsaufwand den Verantwort- lichen noch das geringste Kopfzerbrechen bereitet haben, traten die neuen Probleme doch parallel zur extremen Verschärfung der das Leben imNachkriegsdeutschland dominierenden Versorgungs- engpässe auf. Folge war, dass die daraus erwachsenden Folgen die Geflohenen und Vertriebenen am härtesten treffen mussten. Allerdings gilt es einleitend nochmals zu betonen, dass das meiste von dem, was sich damals mit Blick auf die Neuankömmlinge in den einzelnenOrten abgespielt hat, weitgehend imDunkeln bleiben muss, weil sich zu diesen Aspekten kaum Sachakten erhalten haben. Aus den überlieferten offiziellen Protokollen der Gemeinde- und Amtsvertretungen kann hierzu vergleichsweise wenig entnommen werden. So beinhaltet beispielsweise das Ratsprotokollbuch der Ge- meinde Hochneukirch keinerlei verwertbare Informationen zur Flüchtlingsproblematik imAllgemeinen und zu den Fragen vonUn- terbringung und Versorgungsengpässen im Besonderen. Es handelt sich um reine Ergebnisprotokolle, in denen lediglich die Resultate von Abstimmungen, nicht aber die sich dahinter verbergenden Fak- ten und Auseinandersetzungen Eingang gefunden haben. Inhalte und Verlauf der um solche Themen sicherlich oft mit großer Lei- denschaft geführten Diskussionen wurden nirgendwo schriftlich fi- xiert. Insofern muss alles das, was im Folgenden skizziert wird, zwangsläufig bruchstückhaft und vergleichsweise „leblos“ bleiben. Dennoch bleibt zu hoffen, dass zumindest die zentralen Probleme und die damit eng verknüpften Stimmungslagen in ihrer Grundten- denz richtig erfasst und wiedergegeben sind. PROBLEMFELD 1: UNTERBRINGUNG UND HYGIENE Die mit dem Phänomen von „Flucht und Vertreibung“ einherge- henden Probleme begannen in aller Regel direkt mit der Ankunft in den Dörfern, galt es die Betreffenden doch trotz aller ohnehin bestehendenWohnungsnot zunächst einmal halbwegs menschen- würdig unterzubringen. Über die ersten Bemühungen in dieser Frage sind aus den hier untersuchten Gemeinden leider so gut wie keine Informationen überliefert. Das kann durchaus auch daher rühren, dass zumindest Jüchen, aber wohl auch Hochneukirch, Bedburdyck und Garzweiler aufgrund der Belastungen, die aus dem Unterhalt des „Polenlagers“ resultierten, zunächst eher zu- rückhaltend mit Zuweisungen bedacht wurden. Weil laut der Mitteilung des Landrats vom 19. November 1945 466 aber auch in diesen, zur dritten Zuteilungs-„Säule“ zäh- lenden Orten erste Flüchtlinge zu erwarten waren, wird man die Bevölkerung darauf vorbereitet und zur Unterstützung aufgerufen haben. So wurde in einer am 22. November in Glehn ausgehange- nen Bekanntmachung nochmals unmissverständlich darauf hin- gewiesen, dass eine Aufnahme nicht verweigert werden könne, um dann an die Hilfsbereitschaft der Einheimischen zu appellieren: „Wir, die wir hier imWesten das Glück haben, auf unserer Scholle verbleiben zu können, müssen und werden diese Flüchtlinge des Ostens mit warmen Herzen aufnehmen. Es muss für uns eine Eh- rensache sein, deutschen Stammesbrüdern wieder eine Heimat zu bereiten.“ 467 Vier Tage später ließ Landrat Gilles im „Amtlichen Mitteilungsblatt“ einen weiteren Aufruf zur Solidarität folgen: „Ich rufe die Bevölkerung des Landkreises Grevenbroich-Neuß zu einem Hilfswerk der Nächstenliebe auf. Viele tausend deutsche Brüder und Schwestern aus demOsten pochen an Eure Türen und bitten um Einlass. Sie mussten Haus und Herd verlassen, um eine Blick in „Wohnungen“ im Flüchtlingslager am Dielenpfad in Lippstadt, Dezember 1947

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