Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

281 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN neue Heimat zu suchen. Hinter ihnen liegt Trostlosigkeit und Elend, vor ihnen die westliche Grenze. Öffnet Eure Herzen und Türen. Rückt zusammen, gewährt den Ärmsten der Flüchtlinge für denWinter einen Platz an EuremHerd. Dankt dadurch Euren Landsleuten aus demOsten für die Gastfreundschaft, die sie Euren Verwandten und Freunden als Evakuierten in verflossenen Tagen der Not gewährt haben.“ 468 Solche von Solidarität geprägten Gefühle werden die weitaus meisten Menschen am Niederrhein angesichts ihrer eigenen be- drängten Situation und der ungewissen Zukunft jedoch kaum in dem von oben erhofften Ausmaß entwickelt haben. Dass aber drin- gender Handlungsbedarf bestand, dürfte allen mittel- und unmit- telbar Betroffenen deutlich vor Augen gestanden haben. Daher dürfte der bereits am 28. September 1945 im Rahmen einer Bür- germeisterversammlung imKreisständehaus in Grevenbroich unter dem Stichwort „Aufbau“ erteilte „neue scharfe Befehle der Mili- tär-Regierung für Instandsetzung der bisher nicht winterfesten Wohnungen“ kaum jemanden überrascht haben. Demnachmussten imKreisgebiet bis zum 1. Dezember noch rund 2.000Wohnungen „soweit durchrepariert werden, dass sie bewohnbar sind“. Die Schaf- fung von Unterkünften hatte nicht zuletzt angesichts der zuneh- menden Zahl an Flüchtlingen und Vertriebenen absolute Priorität und war von den Kommunen scharf zu überwachen. „Rücksichtslos sind alle, auch die ungelernten Kräfte jeder Art, nötigenfalls im Wege der Dienstverpflichtung anzusetzen, damit der Wohnraum fertiggestellt wird.“ 469 Es ist, wie an anderer Stelle noch zu zeigen sein wird, zu bezweifeln, ob diese ambitionierte Vorgabe in die Tat umgesetzt werden konnte. Noch bevor deren Zuzug überhaupt in größerem Maße ein- setzte, galt „die Unterbringung und Versorgung der Ostflüchtlinge“ in zahlreichenOrten des Kreisgebiets auch zum Jahresbeginn 1946 weiterhin als „Hauptschwierigkeit“ in der Arbeit der Kommunal- verwaltungen. „Durch den Zustrom der Ostflüchtlinge werden dieWohnungsverhältnisse immer schlimmer“, wurde Mitte Februar etwa aus Glehn geklagt, wo zu diesemZeitpunkt erst 50 Flüchtlinge eingetroffen waren, während der Korschenbroicher Amtsbürger- meister Lesaar kurz vor seinemWechsel nach Jüchen zur gleichen Zeit über „weitere Anspannungen“ durch die anhaltende Rück- wanderung Evakuierter und den Zuzug von Flüchtlingen berichtete. „Da die Ernährungslage die Aufnahme in die Familien unmöglich macht, werden die Flüchtlinge in Zukunft in Sammellagern ver- bleibenmüssen; die „Wohnungslage“, so hieß es einenMonat später, werde „immer ernster“. 470 Wohnraumerfassung Das kollidierte mit dem seitens der Militärregierung aufgebauten Druck auf die Kommunen, Flüchtlinge möglichst schnell in Pri- vatquartieren unterzubringen, was den Ortsbürgermeistern im Zuge ihrer monatlichen Besprechung bereits am 17. September 1945 von Landrat Gilka mitgeteilt worden war. Gleichzeitig wur- den die lokalen Verwaltungen angewiesen, jeweils zum Wochen- beginn hierüber schriftlichen Bericht zu erstatten und den verfügbaren Wohnraum in jedem Ort genauestens zu erfassen. 471 Eine solche Erfassung war aber keineswegs mit der tatsächlichen Bereitschaft zur Aufnahme obdachloser fremder Menschen gleich- zusetzen - eher im Gegenteil. Wohl in allen ländlichen Gebieten des Rheinlands wohnte die Bevölkerung aus hier bereits mehrfach skizzierten Gründen beengt und wartete daher dringend auf eine Verbesserung der eigenenWohnverhältnisse. Da auf diesemGebiet aber praktisch keine Fortschritte zu verzeichnen waren, ging in der zweiten Hälfte des Jahres 1946 in den meisten Gemeinden parallel zur wachsenden Flüchtlingsnot die Bereitschaft zur Aufnahme wei- terer Vertriebener deutlich zurück. 472 Die Kommunalverwaltungen hatten die detaillierten Vorgaben der Kreisverwaltung zur Wohnraumerfassung zunächst offenbar nicht sehr ernst genommen und ihre diesbezüglichen Aufgaben eher nachlässig erfüllt. Der Landrat sah sich am 22. Februar 1946 zur Beschwerde veranlasst, dass die monatlich abzuliefernden „sta- tistischen Aufstellungen über Bevölkerung und Wohnraum“ sehr ungenau seien und offenbar „zum größten Teil auf Schätzungen beruhen“ würden. 473 Er ordnete daher eine genauere Überprüfung an und forderte die Gemeindeverwaltungen darüber hinaus auf, künftig am 2. jeden Monats eine aktualisierte Aufstellung auf vor- gegebenen Formblättern einzureichen. Für Bedburdyck haben sich diese Daten der Wohnraumerhe- bung erhalten und eröffnen interessante Einblicke in die diesbe- züglichen Verhältnisse im Ort. Demnach zählte der Ort, in dem vor Kriegsbeginn 3.467 Menschen gelebt hatten, im Januar 1946 bereits wieder 3.588 Einwohner, von denen 61 als Flüchtlinge und 72 als „Fremdarbeiter“ – also „Displaced Persons“ (DPs) - klassifi- Bekanntmachung über das Eintreffen von Flüchtlingstransporten, 22. November 1945

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