Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
282 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN ziert wurden. Bis Ende Februar hatte sich die Zahl der Erstge- nannten auf 77 erhöht, um dann bis Juni über 102 (März) und 191 (Mai) auf 228 anzusteigen. Im gleichen Zeitraum ging die Zahl der DPs lediglich auf 61 zurück. Im gleichen Zeitraum standen im Gemeindegebiet 42.560 qm an Wohnraum zur Verfügung, was bedeutete, dass Bedburdyck, das vor Kriegsbeginn über rund 43.000 qm Wohnfläche verfügt hatte, nahezu keine Kriegszerstörungen aufwies. Von Januar bis Juni 1946 verschob sich die Nutzung des verfügbarenWohnraums in einem Punkt in sehr bezeichnender Weise. Im Januar 1946 hatten den Einheimischen 779 Wohneinheiten mit 41.077 qm und damit jedem einzelnen imDurchschnitt 12 qm anWohnfläche zur Verfügung gestanden. Dieser Wert blieb bis Juni 1946 – also vor dem großen Zuzug von Flüchtlingen – nahezu gleich. Nun verteilten sich 40.526 qm auf 746Wohneinheiten, womit auf jeden Bewohner 11,7 qm entfielen. Die „Fremdarbeiter anderer Natio- nen“ hatten im Januar 1946 insgesamt 26Wohneinheiten mit 620 qm und damit je Person 10,9 qm bewohnt. Auch diese Werte ver- änderten sich nur marginal: Im Juni 1946 zählte man in Bedbur- dyck 30 Wohneinheiten mit 680 qm und einem Prokopfanteil von 11,1 qm. Die eindeutigen Verlierer in der Zuteilung privaten Wohnraums waren bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Flücht- linge und Vertriebenen: Hatte man ihnen im Januar 1946 im Ge- meindegebiet 34Wohneinheiten mit 812 qm zugestanden, womit auf jede Person durchschnittlich 8 qm entfielen, war die Zahl der Wohnungen bis Juni zwar auf 65 mit insgesamt 1.320 qm ange- stiegen. Aufgrund des weiteren Zuzugs bedeutete das aber zugleich, dass sich die für jeden Neuankömmling verfügbare Wohnfläche bereits bis Mitte 1946 auf 5,8 qm reduziert hatte – Tendenz deut- lich steigend. Dabei kam für die Betroffenen in aller Regel noch erschwerend hinzu, dass die nackten Größenangaben nichts über die tatsächliche Qualität des zugeteilten Wohnraums aussagten. Eine wenn auch bescheidene Quadratmeterzahl in einem behaglich eingerichteten und geheizten Zimmer bot einen gänzlich anderen Komfort als eine provisorische Unterkunft in einem ehemaligen Stall oder einer kargen Gesindekammer. - Für die Zeit der großen Flüchtlingswellen konnten vergleichbare Erhebungen leider nicht aufgefunden werden. Die Realität sah für die meisten der neu im Rheinland Ange- kommenen zunächst aber keine private Unterkunft vor. Als das Flüchtlingsthema unter demTagesordnungspunkt „Versorgung der in allernächster Zeit zu erwartenden neuen Flüchtlinge“ am 3. Juli 1946 erstmals Eingang in das Protokollbuch des Garzweiler Ge- meinderats fand, hieß es zur aktuellen Lage imDorf: „ZumAuffan- gen der Flüchtlinge wird ein Klassenzimmer der Schule Garzweiler zur Verfügung gestellt.“ Darüber hinaus beschloss die Gemeinde- vertretung, „die Herren Geistlichen zu bitten, in einer Predigt be- sonders auf das Flüchtlingselend hinzuweisen und aufzufordern, sich freiwillig zu melden, wer noch Ostflüchtlinge aufnehmen“ wolle. Auf eine solche Hilfsbereitschaft war man besonders ange- wiesen, denn aufgrund der erheblichen Kriegszerstörungen standen im Ort – anders als etwa in Bedburdyck – keinerlei Säle zur vorü- bergehenden Unterbringung zur Verfügung. Daher müsse, so heißt es im Protokoll, „auf Privatwohnungen zurückgegriffen werden“. Zwar wollte man versuchen, ein der Gemeinde gehörendes Haus „möglichst schnell“ instand zu setzen und den Pfarrer zu bewegen, eine im Eigentum der Kirchengemeinde stehende Baracke „zur Aufnahme der Flüchtlinge zur Verfügung“ zu stellen, doch waren die Erfolgsaussichten angesichts der allgemeinen Zeitumstände wohl nicht eben groß. So diente die Baracke der Kirchengemeinde als Unterkunft für die beschädigte Schule in Jackerath und konnte erst dann einer anderen Nutzung zugeführt werden, wenn diese instandgesetzt war. Zugleich musste man aber einen Raum der Garzweiler Schule selbst als Notunterkunft zur Verfügung stellen, was als beispielhafter Beleg für die insgesamt düsteren Perspektiven in der Unterbringungsfrage gelten kann. 474 Der Küchenherd diente als Tisch und geschlafen wurde zu dritt in einem Bett: Szenen aus dem Flüchtlingslager am Dielenpfad in Lippstadt (März 1948) und
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTI5NTQ=