Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
284 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN 1946 in Düsseldorf zu einer Sitzung des Flüchtlingsausschusses der Nord-Rheinprovinz zusammenfanden. Das Treffen wurde vom zuständigenMinisterialbeamtenmit der Feststellung eröffnet, „dass die Unterbringung von Flüchtlingen mit demAnlaufen der Aktion Swallow im Juni des Jahres“, in deren Rahmen der Nord-Rhein- provinz wöchentlich durchschnittlich 7.000 bis 8.000 Flüchtlinge zugewiesen wurden, zwischenzeitlich zu solchen Schwierigkeiten geführt habe, „dass, um eine bevorstehende Katastrophe zu ver- meiden, es dringend erforderlich ist, gemeinsam über Mittel und Wege bezüglich der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge insbesondere zu beraten“. In einem Punkt herrschte unter den Anwesenden offenbar Ei- nigkeit: „Die Erfahrung hat gelehrt, dass sämtliche Verfügungen betreffs Wohnraumbeschränkung bisher umsonst gewesen sind. Die Flüchtlinge müssen untergebracht werden, und auf Macht- mittel, demzufolge die Leute zur Aufnahme von Flüchtlingen ge- zwungen werden, kann heute nicht mehr verzichtet werden.“ Es wurde vorgeschlagen, „zuverlässige Kommissionen“ zu bilden, die in den Landkreisen und Gemeinden auch gegen etwaige Wider- stände Stichproben zum verfügbarenWohnraum vornehmen soll- ten. „Bürgermeister und Landräte, die sich solchen Anordnungen widersetzen, sind abzusetzen oder der Militärregierung zu melden.“ Für die Mitglieder des Flüchtlingsausschusses war völlig klar, dass durchaus noch Wohnraum für Neuankömmlinge zu gewinnen war, doch wussten sie auch, dass die örtlichen Stellen „keinerlei Mittel undWege scheuen“ würden, „um die Aufnahme von Flücht- lingen zu umgehen“. Der Vertreter der BezirksregierungDüsseldorf stellte zugleich aber auch fest, dass die verfügbarenKapazitäten zumindest teilweise bereits überstrapaziert seien. So entfiele imKreisGrevenbroich einFlüchtling auf 12,5 Einwohner, was zu unsäglichen Zuständen führe. „Die Ver- hältnisse sind unbeschreiblich. Die Flüchtlinge liegen inMassenquar- tieren zusammengepfercht. In einzelnen dieser Massenunterkünfte sind bereits mehrfach Infektionskrankheiten (Diphterie, Typhus) als auch Geschlechtskrankheiten aufgetreten.“ Die Lage stellte sich für die Verantwortlichen „derart menschenunwürdig“ dar, „dass es unter den gegebenenVerhältnisse nicht mehrmöglich ist, nochmehrMen- schen in die einzelnen Landkreise hineinzupferchen“. Den sich in den einzelnenGemeinden auftürmenden Problemen hinsichtlich derWohnraumermittlung war man sich also nur zu be- wusst, hoffte diese aber weiterhin durch eindeutige Erlasse und damit verknüpfte Vollmachten besser in den Griff bekommen zu können. Zwar wurde anerkannt, dass „jede Bildung von Kommissionen Schwierigkeiten imGefolge“ habe, doch sah man es als alternativlos an, die Verantwortlichen in den Dörfern als Repräsentanten staatli- cher Gewalt in die Pflicht zu nehmen. Dass die sich dabei häufig in einem kaum auflösbaren Dilemma befanden, sah man ebenso klar. Es sei allgemein bekannt, so hielt das Protokoll fest, „dass die unter- geordneten Dienststellen vielfach nicht durchgreifen, um mit den Bürgern ihrer Gemeinde nicht in Missstimmung zu geraten“. 477 Gesundheit und Hygiene Angesichts der eskalierenden Notlage blieb den Akteuren oft tat- sächlich nur die sprichwörtliche Wahl zwischen „Pest und Cho- lera“. Die imWesten Ankommenden waren in aller Regel nicht nur mittellos, sondern angesichts der Vertreibungsumstände völlig ent- kräftet und häufig krank. Um dem entgegenzusteuern, war natur- gemäß eine trockene und warme Unterbringung unter halbwegs akzeptablen hygienischen Bedingungen ein unbedingtes Muss. Die Realität gestaltete sich zumeist aber völlig anders. Der Gesundheitszustand der Ankommenden, so berichtete etwa der Oberkreisdirektor des Kreises Kempen-Krefeld am 24. April 1946, sei „imDurchschnitt durchaus schlecht“ Die weitaus meisten von ihnen seien unterernährt, invalid und arbeitsunfähig. Die Flüchtlinge kämen „mit dem geringstenGepäck“, und die Kleidung, die sie tragen würden, sei „sehr dürftig und abgerissen“. Die Folgen solch unsäglicher Bedingungen konnten nicht ausbleiben. Das Be- finden der Vertriebenen, so glaubte der Oberkreisdirektor Ende Mai 1946 erkannt zu haben, habe sich noch weiter verschlechtert. Dieser Trend hielt auch im Juni 1946 an, wobei immer stärker auch die schlechte Unterbringung und Versorgungslage vor Ort ihren Teil zur wachsenden Problemlage beitrugen und direkt auf die Lage der Ankömmlinge durchschlugen. Auch in den nächsten Monaten änderte sich in dieser Hinsicht nichts. 478 Gleiches galt für den Kreis Grevenbroich. Als er Mitte August 1946 eine Besichtigungstour durch seinen Amtsbezirk unternahm, musste Kreisamtsarzt Pedretti feststellen, dass es umdie hygienischen Zustände in den Massenquartieren alles andere als gut bestellt war. Es fehlte in erster Linie an geeignetenWaschgelegenheiten, wie oh- nehin Sauberkeit in den meisten Unterkünften ein Fremdwort war und auch – zumeist gezwungenermaßen - von den örtlichen Be- treuungsstellen sträflich vernachlässigt wurde. Ein Grundproblem sah Pedretti darin, dass die Flüchtlinge zu lange in den völlig unge- eignetenNotunterkünften bleibenmussten, ehe sie in Privatquartiere wechseln konnten. Seitens der Kreisverwaltung wurde daher er- heblicher Druck auf die Gemeindedirektoren ausgeübt, in dieser Hinsicht tätig zu werden. Ansonsten, so der unmissverständliche Hinweis, hätten „sie für evtl. Schäden gesundheitlicher Art, die sich die Flüchtlinge durch mangelhafte Unterbringung zuziehen, unter Umständen die Verantwortung zu tragen“. 479 Die Situation spitzte sich mancherorts derart zu, dass die un- zumutbare Behandlung der Flüchtlinge und Vertriebenen auch Auswirkungen auf die gesamte Bevölkerung nach sich zu ziehen drohte. So warnte Kreisamtsarzt Pedretti den Oberkreisdirektor am 31. August 1946: „Der Gesundheitszustand der zahlreichen Flüchtlinge, die in den letzten 4 Wochen in den Kreis gekommen sind, ist außerordentlich schlecht. Bei ihnen herrscht die Tuber- kulose in erschreckendem Maße und bildet eine große Gefahr für die Bevölkerung. Die bisher ermittelte Zahl der Tuberkulösen unter ihnen war wider Erwarten groß. Es kann aber nur ein Bruch-
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