Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
287 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN Hilflose Kommunalverwaltungen? DasThema blieb brisant und Quell steter Konflikte. So wies Ober- kreisdirektor Gilka in einer Bürgermeisterversammlung am 16. Ja- nuar 1947 auf das Ergebnis von Kontrollen hin, die ergeben hätten, dass „in den Ämtern bei der Unterbringung der Flüchtlinge nicht einheitlich verfahren worden sei“. Ohne das konkrete Ge- meinden oder Orte beimNamen genannt wurden, hieß es weiter: „Einzelne Direktoren haben sich nicht genügend für eine gute Un- terbringung der Flüchtlinge eingesetzt.“ Die Spitzen der Kommu- nalverwaltungen müssten sich künftig persönlich um die Wohnraumbeschaffung für Vertriebene kümmern und darauf ach- ten, dass sie „menschenwürdig untergebracht“ würden. Wer es in dieser Hinsicht an der erforderlichen Sorgfalt fehlen lasse, so die deutliche Warnung der Aufsichtsbehörde, müsse damit rechnen, dass Maßnahmen gegen ihn eingeleitet würden. Die Zuweisungen, so die Erkenntnis aus den vor Ort durchgeführten Kontrollen, soll- ten in jedemFall „gleichmäßig“ erfolgen und auch die großenHäu- ser am Platz – nicht zuletzt die stattlichen Bauernhöfe – entsprechend ihres Raumvolumens belegt werden. Gerade in sol- chen Fällen seien die Verwaltungsleiter gefragt, die nicht davor zu- rückscheuen dürften, „sich gegen die Entscheidung der Wohnungsausschüsse“ zu stellen, „wenn Flüchtlinge nach ihrer Ansicht doch untergebracht werden können“. Nach einer Ent- scheidung der Militär-Regierung hätten dieWohnungsausschüsse lediglich beratende Funktion, während die Verantwortung für jede Entscheidung nach wie vor bei der Verwaltung liege. Solche Äußerungen waren weitaus schneller und leichter getan, als deren Inhalte anschließend in die Tat umgesetzt. Zum einen fehlte es den Kommunalverwaltungen in dieser Frage eindeutig an Kompetenzen, Personal undMitteln, ihre Entscheidungen auch tatsächlich durchzusetzen. So beklagte der Jüchener und Hoch- neukircher Amts- bzw. Gemeindedirektor Lesaar bei gleicher Ge- legenheit, „dass eine Unterbringung leichter sei, wenn neben den Maßnahmen der Zwangsunterbringung eine Bestrafung von Per- sonen, die Flüchtlinge nicht aufnehmen wollen, vorgenommen würde“, eine Sichtweise, der die übrigen Verwaltungsleiter zu- stimmten. Ohne die Möglichkeit wirkungsvoller Sanktionen, so der Umkehrumschluss, standen die Kommunalverwaltungen un- willigenHaus- undWohnungsbesitzern weitgehend hilflos gegen- über. Zugleich wurde aus den Reihen der Ortsbürgermeister und Gemeindedirektoren noch ein weiteres Problem angesprochen, dem für die jeweilige Lage vor Ort wohl ein hoher Stellenwert beizumessen war. Die Kreisverwaltung, so beklagten sie, würde es sich zu leicht machen, wenn sie zumeist „einseitig zugunsten der Flüchtlinge Entscheidungen treffen“ würde, was die jedoch um- gehend entschieden zurückwies: „Die Kreisverwaltung sei stets bestrebt, zwischen den Flüchtlingen und den Gemeindeverwal- tungen ausgleichend zu wirken.“ 484 Der demThema innewohnende Interessenskonflikt wurde überdeutlich: Die vor Ort agierenden und auf ihre Wiederwahl hinarbeitenden Personen waren häufig die Überbringer der schlechten Nachrichten, wobei es sehr häufig die besitzenden und einflussreichen Dorfhonoratioren waren, die sich einer Inanspruchnahme ihrer Häuser zur Unterbringung von Geflohenen und Vertriebenen zu entziehen verstanden. - Das wurde im Übrigen auch von den meisten befragten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bestätigt. DasThema der Unterbringung der Neuankömmlinge blieb auch akut, nachdem die große Zuzugswelle mit Beginn des Jahres 1947 abebbte. So sah sich die Kreisverwaltung am 19. Februar 1947 ver- anlasst, die Gemeinden dazu aufzufordern, die noch bestehenden Massenquartiere umgehend aufzulösen, weil es nicht einleuchten könne, das solche „seit dem Aufhören der Transporte noch nicht geräumt werden konnten“. Dahinter verbarg sich offensichtlich teil- weise taktisches Kalkül auf Kosten der Flüchtlinge, denn nach Be- obachtungen des Landrats gab es Gemeinden, die glaubten, sie wür- den bei weiterer Existenz von unzumutbarenMassenquartieren von neuen Zuweisungen verschont bleiben. Das werde, so die Ankündi- gung aus Grevenbroich, künftig nicht mehr akzeptiert und die noch bestehenden Massenunterkünfte seien bis zum 15. April 1947 zu räumen. Es sei „Pflicht der Gemeinden, den Flüchtlingen in jeder Weise so weit zu helfen, dass sie das Bewusstsein haben können, in der einheimischen Bevölkerung integriert zu sein“. 485 Wenn die Zahl der in solchen notdürftigen Sammelquartieren Untergebrachten daraufhin auch deutlich zurückging, betrug sie im Juli 1947 immer noch 323 Personen. In Bedburdyck, Garzweiler, Hochneukirch und Jüchen gab es – zumindest ausweislich der offi- ziellen Erhebungen - zu diesemZeitpunkt allerdings keine solchen Massenunterkünfte mehr - vorläufig. 486 Zu deren Rückgang hatten wohl die weiteren systematischenOrtsbegehungen derWohnungs- kommissionen wesentlich beigetragen, die immer wieder Fehl- oder Unterbelegungen aufdeckten und so neuen Wohnraum für Flüchtlinge freimachten. Während sich die meisten Einheimischen angesichts des öffentlichen Drucks und der angedrohten Sanktio- nen nunmehr weitgehend in ihr Schicksal fügten und mit den Ver- triebenen mehr schlecht als recht den Wohnraum und dabei ins- besondere die Küche und die sanitären Einrichtungen teilten, leistete eine sich vorwiegend aus Landwirten rekrutierende hart- näckige Minderheit weiterhin heftigen Widerstand. Noch zu Be- ginn der 1950er Jahre befürchtete der stellvertretende Widdesho- vener Amtsbürgermeister den Ausbruch einer „Revolte“ im Ort, falls es zu einer erneuten systematischen Überprüfung der Woh- nungen kommen würde. Sein Hinweis, dass die Mistgabeln schon bereit stünden, verwies dabei deutlich auf die soziale Herkunft der potenziellen „Revolutionäre“. So nimmt es nicht Wunder, dass von allen Seiten immer wieder der dringende Wunsch geäußert wurde, gerade diese in den ersten Nachkriegsjahren aus verschiedenen Gründen ohnehin erheblich bevorteilte Bevölkerungsgruppe stärker in die Pflicht zu nehmen. So wurde am 29. November 1947 in einer Versammlung der Amts-
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