Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
289 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN überlasteten Kommunalverwaltungen erheblichen Arbeitsaufwand verursachen, der angesichts der Unzahl der – zumeist berechtigten –Wünsche schnell ins schier Unermessliche wachsen konnte. Das sei an einem eher unspektakulären Beispiel aus Bedburdyck und Jüchen veranschaulicht: Am 30. Dezember 1947 stellte der im Bedburdycker Ortsteil Gierath wohnende Flüchtling Otto T. einen „Antrag auf Umsiedlung“ nach Jüchen. „Bin Schwerkriegsbeschä- digter, Beinamputierter, habe eine Beschäftigung in der Kleiderfa- brik Jakobi, Jüchen, zugewiesen erhalten. Da es mir als Amputier- temnicht möglich ist, jeden Tag von Gierath nach Jüchen zu gehen, bitte ich, mir eineWohnung in Jüchen zuzuweisen. Habe ein Zim- mer in Gierath, könnte auch auf einem Tauschwege geschehen. Familie besteht aus 3 Personen, Frau und Tochter. Meine Tochter hat auch in Jüchen Beschäftigung.“ Alles in allem erscheint dieser Fall – natürlich abgesehen davon, dass Familie T. vertrieben und Vater Otto im Krieg schwer ver- wundet wurde – angesichts der Zeitumstände eher positiv und einfach: Familie T. war privat in einem Zimmer untergekommen und sowohl die Tochter als auch der körperlich erheblich beein- trächtigte Vater hatten bereits eine Beschäftigung gefunden. Aber das war eben nur die eine Seite der Medaille. Der Bedburdycker Gemeindedirektor versuchte zu helfen und wandte sich am 13. Ja- nuar 1948mit der Bitte an die Kreisverwaltung, der Umquartierung zuzustimmen, weil es sich bei Otto T. „um einen Schwerkriegsbe- schädigten handelt, demdamit eine Existenzmöglichkeit geschaffen würde“. Dem pflichtete man auch in Grevenbroich vollinhaltlich bei und forderte daher am 19. Januar die Amtsverwaltung in Jüchen auf, „den Wohnungstausch mit einer willigen Familie aus Ihrem Amtsbezirk umgehend in Zusammenarbeit mit dem Gemeinde- direktor in Bedburdyck durchzuführen“. Das war angesichts der katastrophalen Lage auf dem lokalenWohnungsmarkt jedoch weit- aus leichter gesagt als getan. Die Jüchener Verwaltung fertigte zwar umgehend entsprechende Aushänge an, in denen um einen Woh- nungstausch oder sonstige Hilfe gebeten wurde, doch blieb das zumindest bis zum 29. Januar 1948 ohne Erfolg. An diesem Tag wurde nach Grevenbroich mitgeteilt, dass sich einMitarbeiter des lokalen Flüchtlingsamtes in den nächsten Tagen auf denWeg nach Gierath machen werde, um sich das von T. zumTausch angebotene Zimmer anzusehen und außerdem zu versuchen, „ob ich die An- gelegenheit auf eine andere Weise ermöglichen kann, falls keine freiwillige Meldung erfolgt“. Über den Ausgang der Angelegenheit gibt die Akte keine Aus- kunft. Es ist jedoch anzunehmen, dass sich kaum jemand gefunden haben dürfte, der eine Unterkunft im größeren, infrastrukturell weitaus besser gestellten Jüchen gegen eine im dörflichen Gierath einzutauschen bereit war. Dieses eher unbedeutende Beispiel ver- anschaulicht aber den enorm hohen Zeitaufwand, der mit der ein- fachen Bitte von Otto T. gleich auf drei Verwaltungen zukam – und das alles zu einer Zeit, in der Kommunikation und Mobilität ohnehin stark eingeschränkt waren. 490 Ein Beispiel aus der Nachbarschaft Besonders arbeitsaufwändig und kaum mehr steuerbar wurde die Zuweisung akzeptablenWohnraums an Flüchtlinge undVertriebene immer dann, wenn daraus resultierende Konflikte auf persönlicher Ebene ausgetragen wurden. In vielen Zeitzeugenerinnerungen wird immer wieder auf die zumeist sehr große Zurückhaltung hingewie- sen, mit der die einheimische Bevölkerung den neu in den Dörfern Ankommenden begegnet sei. Immer dann, wenn seitens der Ver- waltung – in aller Regel gegen den ausdrücklichen Willen der Hausbesitzer - eine Zuweisung vorgenommen worden war, drohte unmittelbar die Gefahr unerbittlicher Konflikte, die nicht selten in offenenHass und entsprechendes Verhalten umschlugen. Solche Auseinandersetzungen kosteten allen Beteiligten zwar viel Zeit und Kraft, fanden in der schriftlichen Überlieferung aber eher selten unmittelbaren Niederschlag. Da es aber wohl nicht zuletzt derar- tige unerbittlich ausgetragene Streitigkeiten waren, die das örtliche Klima vergiften und das Verhältnis zu den Neuankömmlingen nachhaltig belasten konnten, sei hier ein gut dokumentierter Fall aus dem Jüchen benachbarten Korschenbroich als Beispiel dafür wiedergegeben, dass sich damals in einzelnen Häusern wahre „Kriege“ zwischen den einzelnen Parteien abspielten. 491 Als das Korschenbroicher Wohnungsamt Mitte Januar 1947 der Familie S. eine aus zwei Räumen bestehende „Wohnung“ im Haus der Kleinenbroicher Witwe B. zuwies, initiierte es ungewollt eine lange und bittere Auseinandersetzung. Bereits drei Tage nach der Zuweisung erschien Kurt S. auf demWohnungsamt, um über seine Erfahrungen zu berichten und Beschwerde einzulegen. Als er bei der Witwe erschienen sei, so gab er zu Protokoll, habe diese erklärt, eine Aufnahme von Flüchtlingen käme für sie „nicht in Frage“ und folgerichtig die Annahme des entsprechenden amtlichen Zuweisungsschreibens schlicht verweigert. Das sei dann – offenbar noch immer vor dem Haus - deren Tochter übergeben worden, die ihrerseits wörtlich erklärt habe, „dreckiges Flüchtlingspack“ würde man keinesfalls unterbringen. Daraufhin, so S. weiter, sei es zu einer „erregten Auseinandersetzung“ gekommen, „da ich mir diese Beleidigung nicht gefallen ließ“. Immerhin habe er die frag- licheWohnung schließlich noch in Augenschein nehmen können. Aber obwohl er deren eigenhändige Reparatur in Aussicht gestellt habe, habe Witwe B. auf ihrer ablehnenden Haltung beharrt, wes- halb er sich nun gezwungen sehe, Anzeige zu erstatten und „um behördlichen Schutz“ nachzusuchen. Daraufhin forderte die Verwaltung die Polizeistation Kleinen- broich auf, dieWitwe und deren Tochter zu vernehmen und ihnen zugleich mitzuteilen, dass sie bei weiterer Weigerung neben der Zwangseinweisung auch nochmit einer Anzeige zu rechnen hätten. Wie zu erwarten, wurde dem vernehmenden Polizisten von Familie B. eine völlig andere, allerdings nicht eben glaubhafte Version der Vorgänge präsentiert. Als Familie S. mit ihrerWohnungszuweisung erschienen sei, so erklärte die Witwe nun ausweichend, sei sie
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