Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

290 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN gerade mit dem Waschen von Windeln beschäftigt gewesen und habe das Schriftstück daher nicht persönlich in Empfang nehmen können, was daher ihre herbeigerufene Tochter übernommen habe. Immerhin gestand sie ein, die Zuweisung mit den Worten, das „ginge doch nicht“, abgelehnt zu haben, weil sie jemand anderen erwartet hätte. In diesem Augenblick habe Frau S. dann geäußert, sie habe „überhaupt kein Bestimmungsrecht mehr“ über ihr Haus und Familie S. werde daher noch am gleichen Tag einziehen. Auch die Beschimpfung der Flüchtlingsfamilie versuchte dieWitwe nun in ein milderes Licht zu setzen. Als ihre Tochter hinzugekommen sei, so versuchte sie dem Polizeibeamten Glauben zu machen, habe die zu ihr gesagt „Mama, reg Dich doch nicht auf, über jedes Pack regst Du Dich auf “. Daraufhin habe sie das Zuweisungsschreiben an sich genommen und Familie S. die Wohnung gezeigt. Indirekt teilteWitwe B. zudemmit, wie ungelegen der angeordnete Einzug der Flüchtlinge für sie kam, denn in der darauffolgenden Woche sollte die Hochzeit ihrer Tochter stattfinden, weshalb sie Familie S. gebeten habe, doch noch acht Tage zu warten. Das sei jedoch mit der Begründung abgelehnt worden, man habe im Ort schon davon gehört, „dass ich ein gemeines raffiniertes Weib wäre“. Nun, wo die Hochzeit stattgefunden habe, so schloss die Witwe ihre Aussage, weigere sie sich keineswegs, Familie S. aufzunehmen, die jederzeit einziehen könne. Es war wenig überraschend, dass die Tochter die Aussagen ihrer Mutter exakt und in weiten Teilen sogar im Wortlaut bestätigte. Sie fügte allerdings noch eine dramatische Fußnote hinzu: Als Herr S. seinerzeit geäußert habe, er würde, wenn er nicht sofort einziehen könne, polizeiliche Hilfe in Anspruch nehmen, habe ihre ebenfalls anwesende Schwester den Flüchtlingen erklärt, dass sie – also die Aussagende - Ende 1946 ein Kind zur Welt gebracht habe und als Wöchnerin der Schonung bedürfe, worauf Frau S. geantwortet habe, „das wäre ihr gleich, ob ich kaputt ginge oder nicht, denn bei dieser Zeit brauche man sich keine Kinder an- schaffen“. Daraufhin sei sie – ob solcher Hartherzigkeit offenbar zutiefst geschockt – umgehend in Ohnmacht gefallen. Die Aussagen von Mutter und Tochter erscheinen nicht eben glaubwürdig. Abgesehen davon, dass die als ruhebedürftig darge- stellte junge Mutter offenbar problemlos in der Lage war, ihre Hochzeit vorzubereiten und zu feiern, deutet auch das aus behörd- lichem Druck resultierende schnelle Einwilligen in die Aufnahme von Familie S. darauf hin, dass die Hausbesitzer und insbesondere wohl der ebenfalls imHaus wohnende neue SchwiegersohnHubert S. dort grundsätzlich keine Flüchtlinge dulden wollten. Jedenfalls teilte er dem Polizeibeamten wenig überzeugend mit, es könne durchaus „jede andere Familie“ einziehen, aber „nach dem vorher stattgefundenen Auftritt“ nicht mehr jene von Kurt S., da nunmehr „an ein friedliches Zusammenwohnen nicht mehr zu denken“ sei. Letztlich erklärte sich Witwe B. – wohl aufgrund der rechtlichen Ausweglosigkeit – dann doch bereit, Familie S. aufzunehmen, die daraufhin Ende Januar 1947 bei ihr einzog. Noch am Tag des Ein- zugs erklärte Frau S. gegenüber der Kommunalverwaltung, sie komme – wohl für alle Beteiligten überraschend - mit Frau B. „nunmehr gut aus“. Der Frieden währte jedoch nicht lange. Breits Mitte März 1947 wandte sich das Wohnungsamt erneut an die Witwe und forderte sie auf, Familie S. entweder einen – bislang verweigerten - Woh- nungsschlüssel zur Verfügung zu stellen oder zumindest dafür zu sorgen, dass „der Zutritt zur Wohnung jederzeit erfolgen kann“. Die Flüchtlinge sahen sich aber nicht nur häufig ausgesperrt, son- dern auch durch das „sonstige Verhalten“ der Hausbesitzer in ihren Rechten beschnitten und regelrecht diskriminiert. Daher wurde Witwe B. behördlicherseits „eindringlichst“ gebeten, „ein ruhiges Wohnen in Ihrem Hause“ zu ermöglichen. Solche Appelle verhallten allerdings ungehört, so dass sich Kurt S. Ende März zu einer neuerlichen Anzeige gezwungen sah, weil sich das Benehmen von Familie B. weiterhin „untragbar“ gestaltete. „Sie schikaniert uns, wo sie kann.“ EinenWohnungsschlüssel habe man trotz polizeilicher Aufforderung auch in den vergangenen zwei Wochen nicht erhalten. Die Witwe „tobe durchs Haus“ und belege die Angehörigen der Familie S. mit den „unmöglichsten Schimpfnamen“ wie „dreckiges Flüchtlingspack“ oder „Schweine“, worin ihr ihre Tochter imÜbrigen nicht nachstehe. Aber auch an- derweitig sei alles auf Schikane angelegt. So dürfe man an keiner Stelle des Hauses etwas abstellen, obwohl in einemAnbau genügend Platz vorhanden sei. „Die Kohlen, Kartoffeln usw. müssen wir ins Schlafzimmer stellen.“ Noch nicht einmal ein Eimer dürfe imKor- ridor abgestellt werden. Außerdem fühle man sich durch den Schwiegersohn regelrecht bedroht, weil der geäußert habe, er werde Frau S. niederschlagen, „weil sie öfters zum Amt“ gehe. Der Klei- nenbroicherWachtmeister habe zwei Tage zuvor an Ort und Stelle bereits ähnliche Feststellungen gemacht. Man möge doch endlich gegen die Witwe einschreiten und ihr klar machen, „wie sie sich uns armen Flüchtlingen gegenüber zu verhalten hat“. Der hierzu nochmals befragte Dorfpolizist, der nun sozusagen „zwischen die Fronten“ geriet, bestätigte zwar seine Anwesenheit am betreffenden Tag, widersprach Kurt S. aber durch die Aussage, er habe keinesfalls „Feststellungen getroffen“. Es sei vielmehr un- möglich gewesen, bei dem Ortstermin ein „Resultat“ zu erzielen. „Bei der Gegenüberstellung der beiden Frauen wurden diese derart ausfällig und grob, dass eine Einigung überhaupt nicht erzielt wer- den konnte.“ Nachdem sich beide Parteien „gegenseitig das Schlimmste vorgeworfen“ hätten, sei der Rückzug in die jeweiligen Wohnräume erfolgt, worauf er, so der Wachtmeister, das Haus un- verrichteter Dinge wieder verlassen habe. Es muss dahingestellt bleiben, wie unparteiisch der Polizeibe- amte tatsächlich war. Es hat den - allerdings nicht belegbaren – Anschein, dass auch er als Einheimischer den Flüchtlingen eher kritisch gegenüberstand und die offenbar tatsächlich recht rabiate Familie B. zwar wohl nicht unterstützte, aber immerhin vor weiterer Verfolgung schützte. Der zuständige Beamte des Wohnungsamtes

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