Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
292 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN den Läger alles Erforderliche zu tun“. „Nachdem der Zustrom an Flüchtlingstransporten für den hiesigen Kreis als abgeschlossen gelten kann, ist die Beibehaltung vonMassenquartieren nicht mehr zu verantworten.“ Zuständigkeit und Verantwortung für etwaige Missstände wurde dabei eindeutig den Amts- und Gemeindedi- rektoren zugewiesen. Die noch bestehenden Lager, so der Stand- punkt der Aufsichtsbehörde in Grevenbroich, seien „nicht so groß, als dass ihre Insassen unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten nicht mehr unterzubringen wären“. Daher erwartete der Oberkreisdi- rektor bis zum 1. Mai 1948 definitiv „die Ausräumung aller Mas- senquartiere“. Gemeinden, die dieser Anweisung bis dahin nicht nachkommen würden, müssten die Gründe dafür ausführlich schil- dern, wobei es sich der Oberkreisdirektor vorbehielt, in solchen Fällen durch den nordrhein-westfälischen Wiederaufbauminister vor Ort einen externen „Wohnungskommissar“ einsetzen zu lassen. Trotz einer solchen Drohkulisse waren nach Feststellung des Kreis- flüchtlingsausschusses auchMitte April 1949 kreisweit noch rund 500 Flüchtlinge in Massenquartieren untergebracht. 494 Hierzu zählten auch 13 Angehörige dreier Flüchtlingsfamilien aus Ost- preußen undDanzig, die – wie die hier näher vorgestellten Familien Riediger und Tomaschewski aus Flüchtlingslagern in Dänemark kommend – nach Gierath zugewiesen worden waren, wo sie Mitte November 1948 in einem Klassenraum der katholischen Volks- schule untergebracht wurden. Einen Monat später folgten drei weitere Familien mit elf Personen, die aber kurze Zeit später in Herberath unterkamen. Am 5. Januar 1949 wurde gegen den hefti- gen Protest des Hauptlehrers schließlich auch noch das Lehrer- zimmer mit acht weiteren Flüchtlingen belegt. 495 Auf neue Zuweisungen mussten die Orte jederzeit gefasst sein, ohne hierauf Einfluss nehmen zu können. Die im Rahmen einer Bürgermeisterversammlung am 12. Januar 1949 erneut vorge- brachte dringende Bitte der kommunalen Verwaltungsspitzen, „die Flüchtlingsströme einzudämmen“, musste Oberkreisdirektor Gilka erwartungsgemäß abschlägig bescheiden. „Die Flüchtlinge seien plötzlich da und müssten dann auch untergebracht werden.“ Die diesbezüglichen „zahllosen Vorstellungen“ von Kreisverwaltung und Kreistag „seien ebenso ergebnislos verlaufen, wie alle anderen unzähligen Bemühungen in dieser Frage.“ 496 Das aus unzureichender Unterbringung von Flüchtlingen in Massenquartieren resultierende Elend wollte kein Ende nehmen. In Jüchen wurde in der Gemeinderatssitzung am 5. Dezember 1949 der Antrag zur Diskussion gestellt, „endlich die Schule Kirch- straße 9 frei zu machen und hierfür eine Kommission zu bilden“. Obwohl dabei betont wurde, „dass in der Schule Flüchtlinge hau- sen, die bereits ihr 3. bzw. 2. Weihnachten hier verleben müssen und für diese unbedingtWohnraum beschafftwerden müsse“, wur- den Diskussion und Beschlussfassung bis zur übernächsten Sitzung zurückgestellt. 497 In den Protokollen der späteren Sitzungen fand das Vorhaben dann keine Erwähnung mehr. Wohnungsausschüsse als Unruheherde Anlässlich einer Besprechung der kommunalen Spitzenvertreter stellte Gilka Mitte Januar 1949 fest, dass von den insgesamt 16.700 Flüchtlingen im Kreisgebiet noch immer 658 in zumeist „trostlo- sen“ Sammellagern untergebracht seien, um in diesem Kontext dann sein Bedauern darüber zumAusdruck zu bringen, „dass in ei- nigen Gemeinden die Wohnungsausschüsse die Verwaltungen in der Frage der Unterbringung der Flüchtlinge pp. nicht unterstütz- ten“ würden. Bei gleichem Anlass wurden auch die genaue Funk- tion und die Kompetenz der lokal tätigen Gremien nochmals ausführlich erörtert. Diese seien, so wurde vomOberkreisdirektor betont, „ein Instrument des Gemeinderates“ und in dieser Funk- tion ausschließlich „beratend“ tätig. Weder der Ausschuss insge- samt noch einzelne seiner Mitglieder seien befugt, Wohnungen zuzuteilen. „Verantwortlich bleibt der Gemeindedirektor.“ Aller- dings, so hieß es weiter, werde jeder „vernünftige Gemeindedirek- tor“ stets dem „Vorschlage des Ausschusses folgen und seine Mitarbeit begrüßen“. Die tatsächlichen Kompetenzen blieben von einer solchen Empfehlung aber unberührt: „Der Gemeindedirek- tor ist auch berechtigt, in allen Fällen, in denen der Vorschlag des Ausschusses nicht vertretbar ist, in Abweichung des Vorschlages des Wohnungsausschusses eine selbständige Entscheidung zu tref- fen.“ 498 Dass aber unterschiedliche Auffassungen von Verwaltungsspit- zen und Wohnungsausschüssen Konflikte nach sich ziehen konn- ten, lässt sich am Beispiel Bedburdycks veranschaulichen. 499 Hier kamen die Gemeindevertreter am 13. November 1948 zu einer „außerordentlichen Sitzung“ zusammen, als deren einziger Tages- ordnungspunkt im Protokollbuch „Wohnungsangelegenheiten“ ausgewiesen wird. Rats- und Ausschussmitglied Gottschalk – zu- gleich offenbar auch Flüchtlingsvertreter - erklärte bei dieser Ge- legenheit im deutlichem Gegensatz zum oben skizzierten Stand- punkt der Kreisverwaltung, dem Wohnungsausschuss sei im Rahmen der vorherigen Sitzung am 2. November die Vollmacht erteilt worden, „inWohnungsangelegenheiten selbständig zu han- deln“. Entgegen diesem Beschluss habe aber Gemeindedirektor Kessel zwei Einweisungen in Neuenhoven und Gierath eigenmäch- tig veranlasst, „ohne demWohnungsausschuss hiervonMitteilung zu machen“. Der Gemeindedirektor setzte sich zu Wehr, indem er bei einem der Fälle auf ein Urteil der Schlichtungsstelle verwies, auf dessen Grundlage die Einweisung erfolgt sei. Bei der Angelegenheit in Gierath habe es sich hingegen um einen „schwebenden Fall“ gehandelt, bei dem er zumHandeln ge- zwungen gewesen sei. Der konkrete Hintergrund war interessant und kann als Beleg für innerdörfliche Arrangements und Lösungs- versuche in der Wohnungsfrage gelten, bei denen aber die Einhei- mischen aufgrund von Besitz und Einfluss in aller Regel am länge- ren Hebel saßen. Ein ortsansässiger Landwirt, dem Flüchtlinge zugewiesen worden waren, hatte der Gemeinde angeboten, die alte
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