Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

293 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN Schule in Gierath zu einer Wohnung umbauen zu lassen, wenn „ihm eine Familie abgenommen“ werde. Nachdem er sein Verspre- chen durch die Errichtung einer Vierzimmerwohnung eingelöst habe, so argumentierte der angegriffene Bedburdycker Verwal- tungsleiter, habe die Gemeinde nun auch ihrerseits das gegebene Versprechen einlösen und die betreffende Familie aus dem Haus des Landwirts herausnehmen müssen. Der, so hieß es nicht eben logisch weiter, habe dadurch aber keineswegs zusätzlichen Wohn- raum erhalten, „weil immer noch eine Flüchtlingsfamilie dort wohnt und ein alleinstehender Mann, der ebenfalls Flüchtling ist“. Der angesichts des Alleingangs des Gemeindedirektors erboste Gottschalk gab sich mit dieser Erklärung jedoch nicht zufrieden. Im Vergleich zu anderen Fällen, so argumentierte er, wäre der vor- liegende nicht dringend gewesen, womit er wohl zugleich einMit- spracherecht des Wohnungsausschusses in der sozialen Bewertung konkreter Fälle einforderte. Trotz der verbleibenden Differenzen beschloss die Gemeindevertretung, die seitens des Gemeindedi- rektors getroffene Lösung unangetastet zu lassen. Damit waren die Konflikte zwischen Verwaltungsleitung und Wohnungsausschuss aber keineswegs aus der Welt geschafft, denn bereits am 4. Dezember 1948 fand sich die Gemeindevertretung Bedburdyck auf Antrag der Wohnungskommission zu einer neu- erlichen „außerordentlichen Sitzung“ zusammen. Wiederumwurde gegen Gemeindedirektor Kessel Beschwerde geführt und ihm vor- geworfen, in der Quelle leider nicht näher bezeichnete Beschlüsse des Wohnungsausschusses nicht umgesetzt zu haben. Erwartungs- gemäß setzte der sich wieder zur Wehr und erklärte, er habe die Vorgaben des Gremiums sehr wohl befolgt, doch habe anschließend „die Aufsichtsbehörde die Angelegenheit auf Grund von Beschwer- den der Beteiligten ausgesetzt“. Als Beamter hatte Kessel denWei- sungen der Kreisverwaltung Folge zu leisten und geriet so – wie mit ihmwohl viele seiner Amtskollegen – vor Ort häufig in heftige Auseinandersetzungen mit den gewählten Vertretern der Dorfbe- völkerung. So sah sich in diesem Fall die Mehrheit der Bedburdy- cker Gemeindevertreter außerstande, sich den Ausführungen ihres Verwaltungsleiters anzuschließen und sprachen ihm mit sechs gegen fünf Stimmen bei zwei Enthaltungen das Misstrauen aus. Außerdemwurde der Beschluss gefasst, in dem Fall, dass das Kreis- wohnungsamt auf seinem Standpunkt in dieser Angelegenheit be- harre, Klage vor dem Landesverwaltungsgericht einzureichen. Leider ist der Quelle der weitere Fortgang der Auseinanderset- zung nicht zu entnehmen. Sicher ist hingegen, dass die Konflikte zwischen Verwaltung und dem Wohnungsausschuss noch länger andauerten. 500 Nachdem die Gemeindevertretung in ihrer ersten Sitzung des Jahres am 5. Januar 1950 die Einrichtung einer Woh- nungskartei mit der Begründung abgelehnt hatte, „der Aufwand und die Mühe würden einen Erfolg nicht lohnen“, beschwerte sich wiederumGottschalk, dass die Beschlüsse desWohnungsausschus- ses in Bedburdyck „nicht durchgeführt würden“. „Aus Protest“ trat er daher aus dem Gremium aus. Konkreter Grund für diesen Schritt war der Umstand, dass eine vom Wohnungsausschuss be- schlossene Einweisung von Flüchtlingen auf einen Bauernhof nicht durchgeführt worden war, obwohl es dort offenbar reichlich Platz gab. Gemeindevertreter Josef Schlangen – wie GottschalkMitglied sowohl im Flüchtlings- als auch im Wohnungsausschuss – erhob bei dieser Gelegenheit den Vorwurf, „dass die Kontrolle der Re- gierung nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sei“. Er selbst habe bei einer mit einem Gemeindeangestellten durchgeführten Wohnungsbesichtigung auf demHof festgestellt, dass es dort gleich vier freie und für Wohnzwecke geeignete Räume gäbe. Die Empö- rung war offenbar groß, denn zugleich trat noch ein weiterer Ge- meindevertreter „aus Protest gegen die nach seiner Ansicht unbe- rechtigten Eingriffe in die hiesigen Wohnungsangelegenheiten“ aus demWohnungsausschuss aus. Der wiederholt massiv angegriffene Gemeindedirektor Kessel sah sich zu einer erneuten Rechtfertigung veranlasst, deren Argu- mentation viel über die schwierige Position „zwischen allen Stüh- len“ aussagt, die Verwaltungsangehörige damals in den Orten ein- nahmen. Sie mussten hier ja nicht nur beruflich agieren, sondern wohnten zumeist im Ort und hatten hier ihren privaten Lebens- mittelpunkt. Der Gemeindedirektor erklärte, die Gemeinde verfüge über keinen Vollstreckungsbeamten, der zuvor angeordnete Woh- nungseinweisungen von Flüchtlingen durchführen könne. „Die Angestellten der Verwaltung weigern sich, einen derartigen Posten anzunehmen.“ Eine solche Aussage kam einer Bankrotterklärung der Verwaltung gleich und scheint wie das Gegenstück zur bereits oben wiedergegebenen Ansicht des stellvertretendeWiddeshovener Amtsbürgermeister, der zur etwa gleichen Zeit den Ausbruch einer mistgabelbewehrten „Revolte“ imOrt voraussagte, falls es zu einer erneuten systematischen Überprüfung der Wohnungen kommen würde. Das innerdörfliche Klima war in Bedburdyck durch die Wohnungsfrage jedenfalls bereits so angespannt und die Angst vor sozialer Isolation derart ausgeprägt, dass man sich schließlich ge- zwungen sah, zur Durchsetzung von Gemeinderatsbeschlüssen Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen. Dem Antrag des aus dem Wohnungsausschuss ausgetretenen Gemeinderatsmitglieds Hans Gottschalk, der im Übrigen am 21. März 1950 auf Antrag des Flüchtlingsrats mit zwei Gegenstimmen erneut in das Gremium gewählt wurde, „für jeden vollstreckbaren Wohnungsfall einen Vollstreckungsbeamten einer anderen Gemeinde in Anspruch zu nehmen“, wurde von der Gemeindevertretung zugestimmt. Auch auf anderer Ebene wurde die Frage der Unterbringung von Flüchtlingen und Vertriebenen nicht selten eher persönlich ausgetragen. Als im Rahmen einer Gemeinderatssitzung im März 1950 nicht näher beschriebene „Vorgänge auf der Burg Stessen“ erörtert wurden, sah sich erneut Gemeindedirektor Kessel mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe in dieser Angelegenheit „nicht ob- jektiv“ gehandelt. Zugleich erklärte ein Gemeindevertreter, der Regierungspräsident habe ihm gegenüber in einer persönlichen Unterredung geäußert, „dass die Gemeinde Bedburdyck die am

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