Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
295 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN nun auch jenen Teil der Wohnung für sich beanspruchte, der bis dahin mit Flüchtlingen belegt worden war. In diesem Fall machte die Gemeindeverwaltung nicht viel Federlesens und berief sich auf Vorgaben der Besatzungsmacht: „Die Anordnung der Militärre- gierung, wonach Polizeibeamten vordringlich Dienstwohnungen zur Verfügung zu stellen sind, ist hier anzuwenden. 504 Die Flücht- linge mussten also anderweitig und vermutlich noch provisorischer als bisher untergebracht werden. Zu einem weiteren zeittypischen Konflikt um Wohnraum, in dem „öffentliches“ und Flüchtlingsinteresse kollidierten, der dann auch noch umgehend parteipolitisch instrumentalisiert wurde, kam es Mitte 1950 imDörfchen Holz. 505 An der dortigen kleinen Volksschule mit rund 100 Schülern hatte man schon seit längerem mit ständigen Lehrerwechseln zu kämpfen, die wohl in erster Linie auf die Art der Unterbringung der Lehrkräfte zurückzuführen wa- ren. Als daher der Hochneukircher Gemeindedirektor im April 1950 einen Pädagogen fragte, „ob er bereit wäre, die Stelle des 1. Lehrers in Holz zu übernehmen“ und dorthin zu ziehen, erklärte der zwar durchaus seine Bereitschaft – allerdings unter der Bedin- gung, dass im Schulgebäude vier Zimmer und eine Mansarde als Lehrerwohnung freigemacht würden, in die er mit seiner sechs- köpfigen Familie einziehen könne. Gemeindedirektor Bickler war offenbar bereit, auf diese Forderung einzugehen. Das Ansinnen wurde daraufhin inHolz und Hochneukirch öf- fentlich heftig diskutiert und fand sogar Eingang in die Lokalpresse. Im „Rhein-Echo“ war am 8. Juni 1950 von einer „längerenDebatte“ im Hochneukircher Gemeinderat zu lesen, die sich „um die Frei- machung von Schul- und Gemeindedienstwohnungen“ drehte. Laut Pressebericht hatte ein Vertreter der KPD bei dieser Gele- genheit folgende Erklärung abgegeben: „Ich bin nicht damit ein- verstanden, dass die Verwaltung ermächtigt wird, Maßnahmen ge- gen die in Dienstwohnungen wohnenden Bürger zu unternehmen und in einem Fall bereits schon kurzerhand eine Kündigung aus- gesprochen hat. Es geht nicht an, dass Lehrpersonen, die aus der Not kommen, Wünsche stellen, die fast überörtlich erscheinen.“ Er wehre sich dagegen, dass die Gemeinde bestimmte Leute be- vorzuge, während „eine Flüchtlingsfrau auf die Straße gesetzt“ werde. In kurzzeitiger Koalition mit der SPD-Fraktion bewirkte die KPD tatsächlich eine Rücknahme der von der Gemeindever- waltung ausgesprochenen Kündigung der Flüchtlingsfamilie. Der der SPD angehörende Bürgermeister Beier erklärte anschließend diplomatisch, es müsse künftig dafür Sorge getragen werden, „dass Bürger, die man aus Dienstwohnungen heraussetzt, anderweitig genau dieselben Wohnraumverhältnisse finden, wie sie sie gehabt haben“. Es gehe allerdings nicht an, so der Bürgermeister mit Bezug auf die Kritik aus Kreisen der KPD, dass Pädagogen in dieser Hin- sicht überzogene Ansprüche stellen würden, „die über die örtlichen Verhältnisse hinausgehen“. Die CDU-Fraktion hingegen, die bei der wenige Tage später stattfindenden Landtagswahl in Holz mit 151 Stimmen die absolute Mehrheit im Dorf erringen konnte (SPD 49 Stimmen, KPD 11, Zentrum 23, FDP 32), sprach sich für die Aufrechterhaltung der Kündigung und der Gemeindever- waltung zugleich ihr „volles Vertrauen“ aus. –Wenn über den Fort- gang der Angelegenheit auch nichts Näheres bekannt ist, zeigt allein schon dieses an sich unbedeutende Beispiel, wieviel Kon- fliktpotenzial die Wohnraumfrage in sich barg. Man kann auch ahnen, welchen Standpunkt die Mehrheit der ortsansässigen Be- völkerung in dieser Frage einnahm, stand hier vordergründig doch dasWohl von rund 100 Kindern gegen die Interessen einer „Flücht- lingsfrau“. Der Lehrer übernahm jedenfalls die Stelle inHolz - und damit wohl auch die komplette Dienstwohnung. Der Umgang mit Lehrerwohnungen blieb imDorf ein sensibles Thema. Der Mitte 1950 angestellte und hinsichtlich seiner An- sprüche von KPD und SPD kritisierte Pädagoge beobachtete das weitere Geschehen vielleicht nicht in jeder Einzelheit objektiv, aber sicherlich hochgradig sensibilisiert. Er berichtete in der Schul- chronik über Renovierungsarbeiten an den örtlichen Lehrerdienst- wohnungen im Herbst und Winter 1950, deren Erfolg darin be- standen habe, dass in einer dieser Wohnungen Ende 1950 drei Räume weitgehend saniert und bezugsfertig gewesen seien. Was sich daraufhin ereignete, war in den Augen des Chronisten vielleicht nachvollziehbar, aber keinesfalls korrekt: „Im Januar 1951 zieht die 5-köpfige Flüchtlingsfamilie G., die bei S. in einemmenschen- unwürdigen Raum hauste, aus eigenem Entschluss und ohne Ge- nehmigung der Gemeindeverwaltung in die leerstehenden Zimmer ein.“ – Näheres zu diesem Vorfall findet sich weder in der Schul- chronik noch in den Gemeinderatsprotokollen. Klar ist hingegen, dass diese Dienstwohnung weiterhin „fremdbelegt“ blieb. Als näm- lich ein weiterer Pädagoge zum 1. Mai 1952 (!) die 1. Lehrerstelle in Holz übernahm, fand er dort keine Unterkunft und musste täg- lich zu Fuß zwischen Bedburdyck und Holz pendeln. Erst ein Jahr später, konnte er dann in das zu diesem Zeitpunkt 692 Einwohner zählende Dorf umziehen. Ein weiteres Beispiel einer wahren Odyssee bis zumBezug einer Dienstwohnung beschriebMitte November 1950 der Otzenrather Hauptlehrer Kudlek: Als er am 1. Juli 1946 seinen Dienst im Ort angetreten habe, sei die Dienstwohnung zunächst noch von seinem in den Ruhestand versetzten Vorgänger Rektor Kürten bewohnt gewesen. Es verdiene, so erklärte Kudlek, „in direkter Schilderung“ festgehalten zu werden, wie sich seine und die Unterbringung seiner Familie danach gestaltet hätten. „Zunächst versuchte ich in Guts-, Geschäfts-, auch größerenWohnhäusern in einemmöblier- ten Zimmer für mich allein Unterkunft zu finden, wurde aber überall abgewiesen, obwohl es damals noch fast keine ‚Flüchtlinge‘ im Ort gab. – Meldung beim Schulrat. – Anweisung von diesem an die Gemeinde, für Unterkunft zu sorgen. Was, z.B. im Ritter- gutshaus mit einer Flucht von freien Zimmern nicht möglich war, wurde Wirklichkeit im ‚Haus der armen Witwe‘: Ich bezog (und wohne heute noch daselbst) ein nicht heizbares Zimmer imHause Braunstr. Nr. 45. Monate vergingen, als Rektor Kürten nach Düs-
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