Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

297 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN Wohnungen zwangsweise durchzuführen, falls die Eigentümer sich weigern, sie selbst ausführen zu lassen“. In solchen Fällen sollten die Kosten zunächst von der Gemeinde übernommen werden, um sie später vom Eigentümer einzufordern oder durch den Zugriff auf die Mieteinnahmen auszugleichen. 509 Wie häufig von diesem weitreichenden Eingriffsrecht in eigentlich private Belange Ge- brauch gemacht wurde, ist den Quellen nicht zu entnehmen. Solche Ermächtigungen zur – noch ausführlicher zu behan- delnden - Verbesserung des lokalen Wohnungsmarktes erhielten durch das nordrhein-westfälische „Aufbaugesetz“ vom 29. April 1950 eine formale Grundlage. Als im Bedburdycker Gemeinderat Ende September 1950 ein „Bericht über denWohnungsmarkt“ er- stattet wurde, beklagte der Berichterstatter, im gesamten Gemein- debezirk habe der Wohnungsausschuss lediglich zwei Häuser – nämlich in Neuenhoven und in Gubberath - ermitteln können, die als „ausbaufähig“ einzustufen seien. „Jedoch weigerten sich die Eigentümer, den Ausbau vorzunehmen.“ Allerdings, so wurde fest- gestellt, biete Paragraf 10 des neuen Landeswohnungsgesetzes nun- mehr die Möglichkeit, „dass hier zwangsweise eine Instandsetzung vorgenommen werden könne“. Daraufhin wurde der Verwaltung in Zusammenarbeit mit dem Wohnungsausschuss die Durchfüh- rung solcher Maßnahmen übertragen. 510 Aber auch diese Fälle fin- den in den weiteren Protokollen keinerlei Erwähnung mehr. Insgesamt gilt es festzuhalten, dass Verstöße gegen die Wohn- raumbewirtschaftung durch Einheimische wohl nur selten spürbar sanktioniert wurden. Als sich etwa im Herbst 1951 der Besitzer eines Behelfsheims in Gubberath eigenmächtig über Bestimmungen hinwegsetzte und ohne Genehmigung der Bedburdycker Gemein- deverwaltung eine Familie aus Gustorf nach Gubberath holte, statt den Wohnraum einer der noch immer zahlreichen wohnungssu- chenden Flüchtlingsfamilien zur Verfügung zu stellen, hatte er allemAnschein nach keine Strafe zu erwarten. Der Bürgermeister, so wurde im Sitzungsprotokoll lediglich festgehalten, habe zugesagt, „dass er sich selbst dafür einsetzen werde, dass derartige Fälle nicht mehr vorkommen.“ 511 Die Zuwiderhandlung selbst blieb für den Eigentümer also nicht nur ohne Folgen, sondern die unrechtmäßige Vergabe der Wohnung erfuhr so ihre nachträgliche Anerkennung. Warum sollten sich andere Hausbesitzer im Ort dann anders ver- halten? Solch laxe Reaktionen konnten geradezu als Aufforderung ver- standen werden, behördliche Vorgaben zu ignorieren, ohne spür- bare Folgen befürchten zu müssen. Als Beispiel hierfür kann eine fast zeitgleiche Episode im ebenfalls zur Gemeinde Bedburdyck zählenden Wallrath gelten, wo die Gemeindeverwaltung eine Flüchtlingsfamilie in das Haus einerWitwe eingewiesen hatte. Die verfolgte aber offenbar ihre eigenen Ziele. Statt die behördliche Vorgabe einzulösen, vermietete sie die betreffendeWohnung näm- lich „gegen den Willen der Wohnungsbehörde“, aber offenbar ohne Sanktionen, an einen „illegalen Grenzgänger“. 512 Erneut: Massenunterkünfte Auch in der ersten Hälfte der 1950er Jahre trat hinsichtlich der Unterbringung von Flüchtlingen keine spürbare Entlastung ein. Ganz im Gegenteil kam es durch den erheblichen Zuzug von „SBZ-Flüchtlingen“ zu neuen gravierenden Engpässen, weshalb sich viele Gemeinden gezwungen sahen, erneut auf Massenquar- tiere zurückzugreifen, die dann oft über Jahre Bestand haben soll- ten. Dabei gestalteten sich die Lebensumstände in solchen Sammellagern keinesfalls besser als in der unmittelbaren Nach- kriegszeit. Das geht in aller Deutlichkeit aus einem umfangreichen Schreiben hervor, dass fünf Flüchtlingsfamilien aus Otzenrath am 29. September 1953 hilfesuchend an Bundeskanzler Adenauer richteten. Sie waren imApril des Jahres aus der SBZ geflüchtet und in einem Lager an der Bahnstraße untergekommen. In dem deut- lich vom politischen Klima des „Kalten Krieges“ geprägten Schrei- ben hieß es: „Getragen von viel Kummer und Leid bitten wir Flüchtlinge des La- gers Otzenrath, Ihnen, geehrter Herr Bundeskanzler, unseren Kum- mer vortragen zu dürfen. Am 29. April 1953 wurden wir, fünf Familien, in den Ort Otzen- rath, Kreis Grevenbroich, in eine alte Werkshalle eingewiesen. Wir waren froh, dass wir mit Ihrer Hilfe den roten Henkern imOsten ent- kommen konnten und bei unseren Brüdern imWesten unserer Hei- mat Asyl fanden. Froh waren wir, als wir imApril in der kaltenHalle von ca. 25 m Länge und 8 m Breite sowie etwa 7 m Höhe, geheizt von einem Ofen, Unterschlupf fanden. Schaurig war es für unsere Kinder, das jüngste 1¼ Jahr, und für die Alten, die gezwungen waren, wie um ein Lagerfeuer gescharrt, den Ofen zu umringen, da der große Raum nicht zu erwärmen war. Nachts froren wir alle mehr als am Tage, denn die jedem zur Verfügung stehenden 2 Decken waren in diesem kaltnassen Raum nutzlos. Mehr Decken konnten wir aber von der Gemeinde nicht erhalten, und somit trugen wir alle unser hartes Schicksal geduldig. Wir waren es ja gewohnt, denn fast alle waren wir jenseits der Oder-Neiße beheimatet und dort haben uns die Kommu- nisten Ostdeutschlands nach russischem System ja jeden Lebensinhalt geraubt und zufrieden gemacht. So hockten wir in unseren Kabinen, d.h., wer eine hatte. Die anderen lebten in einem unabgeschlagenen Raum, doch überall war es gleich eisig. Seitdem sind 6Monate vergangen und dies soll auch der Grund sein, warum wir Sie, Herr Bundeskanzler, bitten, uns zu hören. Kurze Zeit später, nachdemwir in Otzenrath weilten, sagte uns der zustän- dige Sachbearbeiter von der Gemeinde, dass für uns bis zum Herbst gebaut werden sollte. Wir freuten uns über die Beschlüsse, die unser Herr Bundeskanzler im Bundestag durchfocht und die unser Los er-

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