Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
298 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN leichterten. Auch die Zeitung berichtete, dass in Otzenrath für uns gebaut werden sollte. Inzwischen ist es Herbst geworden und wir mer- ken es wohl am besten, denn es war nicht einmal den ganzen Sommer über Zeit, die Tür zu der Halle verschlussfähig herzustellen, und wenn wir wüssten, an welchen Stellen für uns gebaut werden sollte, so würden wir noch heute im Herbst den ersten Spatenstich tun, um wenigstens anfangen zu können. Das kleinste Kind ist inzwischen 1¾ Jahr alt geworden, und selbst für diese Familie hat sich bis heute von Seiten der Gemeinde keinWohn- raum gefunden. Nach Aussagen des Sachbearbeiters der Gemeinde sind die vorhan- denen Wohnungen nur für die Ortsansässigen, für uns Flüchtlinge wird gebaut, damit ist es abgetan. Es ist schon so weit, dass die Ge- meinde mit uns jede Zusammenkunft meidet. Verläuft sich alle drei Monate mal jemand zu uns, dann sind wir fast keines Wortes würdig. Ja, was sollen wir Fremdlinge hier, wir Zugelaufenen. Wie anders sieht es in der Gemeinde Dormagen im selben Kreis aus. Dort befinden sich Flüchtlinge, die zur gleichen Zeit wie wir in den Westen kamen. In ca. 4Wochen beziehen alle 11 Familien ihre neuen Wohnungen. In der vorläufigen Notunterkunft hatte jede Familie ihre abgeschlossene Kabine mit elektrischer Kochgelegenheit. Bei uns da- gegen werden immer noch die Ausführungsbestimmungen abgewar- tet. Selbst einen Flüchtlingsausweis konnten wir bis jetzt noch nicht erlangen, und auch einer Wirtschaftsbeihilfe, wie die Flüchtlinge in der Gemeinde Dormagen sie erhielten und die wir alle gerne zurück- zahlen wollen, waren wir bis heute noch nicht würdig. Wir bitten Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, unsere Not zu ver- stehen und uns zu helfen. Da gerade Sie für die Lage der Flüchtlinge das meiste Verständnis gezeigt haben, bitten wir Sie, sich auch unserer Bitten nicht zu verschließen.“ 513 Leider war es bislang nicht möglich, über dieses Lager in Ot- zenrath nähere Informationen zusammenzutragen. Eines aber wird überdeutlich: Der heimischeWohnungsmarkt ließ eine menschen- würdige Unterkunft für die neuankommenden SBZ-Flüchtlinge nicht zu , und auch viele von jenen, die in den Jahren 1946/47 in denWesten gekommen waren, warteten ja noch immer vergeblich auf die Zuweisung akzeptabler Wohnungen. So schossen immer wieder neue der unzumutbaren „provisorischen Flüchtlingsunter- künfte“ aus demBoden, von denen es zumindest im Juli 1955 auch eine in Hochneukirch gab. 514 Verhalten undHandeln der einzelnen Kommunen hingen offen- sichtlich von deutlich unterschiedlichen Interessenlagen und damit eng zusammenhängenden finanziellenMöglichkeiten ab. Während die meisten kleinen Gemeinden wie Otzenrath nach wie vor unter der zu bewältigenden Last der Unterbringung stöhnten, waren stärker industriell geprägte Kommunen, zu denen auch das so ge- lobte Dormagen zählte, zunehmend auf den Zuzug neuer Arbeits- kräfte angewiesen. So berichtete die Neuß-Grevenbroicher Zeitung, dass aufgrund des dringenden Facharbeiterbedarfs der heimischen Industrie ein Kreistagsabgeordneter in Begleitung eines Vertreters des Arbeitsamts in Aufnahmelager in Norddeutschland gefahren sei, um dort solche Flüchtlinge auszusuchen, „die sofort von der Industrie unseres Gebietes als Arbeitskräfte aufgenommen werden können“. Auch auf diesen Aspekt wird noch näher einzugehen sein. Grundriss des Lagers Neuenhoven mit der provisorischen Abteilung von „Wohneinheiten“ und der mehr als notdürftigen Waschgelegenheiten. Insgesamt sollten hier offiziell 37 Personen untergebracht werden. Wie viele es tatsächlich waren, ist unbekannt.
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