Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
305 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN PROBLEMFELD 2: VERSORGUNG Zunächst aber soll ein weiterer wichtiger Aspekt untersucht werden, der das Leben der Flüchtlinge und Vertriebenen in ihrer neuenHei- mat erheblich bestimmte und zugleich eine weitere Herausforde- rung für die Kommunalverwaltungen darstellte: die Versorgung der Neuankömmlinge mit Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenstän- den. Trotz aller Bedeutung gilt es aber direkt einschränkend zu be- merken, dass sich dieses Thema nicht in der gewünschten Klarheit aus den Quellen isolieren lässt, weil – anders als in Fragen der Un- terbringung - von den Versorgungsproblemen der frühen Nach- kriegszeit zunehmend auch der größte Teil der einheimischen Bevölkerung betroffen war. Die daraus erwachsenden Engpässe und Folgen wurden oben bereits umfangreich beschrieben und analy- siert. 518 Daher beschränkt sich die Beschäftigung mit diesen Proble- men hier auf jene Punkte, die für die Flüchtlinge und Vertriebenen spezifisch waren und daher noch nicht behandelt wurden. Nach Beginn der „Aktion Schwalbe“ wurde am 26. August 1946 im Rahmen einer Sitzung des Flüchtlingsausschusses der Nord-Rheinprovinz festgestellt, dass die Flüchtlinge „vielfach bar- fuß und in Lumpen“ ankamen. Abhilfe gegen die ungezählten in- dividuellen Notstände, so wurde den Anwesenden erläutert, sei kaum möglich, denn die darauf angesprochene Wirtschaftsabtei- lung des Oberpräsidiums habe erklärt, „dass Kontingente nicht vorhanden seien“. Die Konsequenz war sowohl für die Ankom- menden als auch für die mit deren Betreuung beauftragten Kom- munalverwaltungen ernüchternd: „Bezüglich der Einkleidung der Flüchtlinge als auch in der Beschaffung der notwendigsten Ein- richtungsgegenstände ist bisher durch die Abteilung Wirtschaft nichts Nennenswertes erfolgt.“ Zusammenfassend hieß es zu diesem Punkt wenig ermutigend, „dass nur durch sofortiges Handeln eine bevorstehende Katastrophe noch verhindert werden“ könne. Offen blieb hingegen, wer handeln sollte bzw. musste? Die Abteilung Wirtschaft beimOberpräsidium jedenfalls, so stellte der Vertreter des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in aller Deutlich- keit fest, habe in dieser Frage „völlig versagt“. 519 Sammlungen Was nach Lage der Dinge blieb, waren - wie bereits unmittelbar nach Kriegsende –wiederumSammlungen in denDörfern, umzumindest denÄrmsten der Armen zu helfen undwenigstens die lebensbedroh- lichsten Löcher zu stopfen. So ordnete die Kreisverwaltung im Feb- ruar 1946 Straßensammlungen an, die seitens der freien Wohlfahrtsverbände im Frühjahr „zugunsten der Flüchtlinge“ in den einzelnen Orten durchgeführt wurden. 520 Dabei waren vor allen Dingen Einrichtungsgegenstände aller Art gefragt, denn nach Mitteilung der Düsseldorfer Bezirksregierung von Mitte März 1946 war es aufgrund der „angespannten Lage amHolzmarkt“ auf absehbare Zeit unmöglich, „auch nur einen geringen Teil des Be- darfs an Tischen und Stühlen für die Ausstattung der Flüchtlings- unterkünfte zu decken“. 521 Sammelaktionen blieben auch künftig an der Tagesordnung. So teilte der Oberkreisdirektor den Gemeinden Anfang Dezember 1946 mit, „dass mit Rücksicht auf die Not weiter Bevölkerungs- kreise Sammlungen durchgeführt werden sollen undMaßnahmen getroffen werden, um Flüchtlingskindern und sonstigen armen Kindern eine Weihnachtsfreude zu bereiten“. Er bat die Kommu- nalverwaltungen um „besondere Beachtung“ des Aufrufs und machte sie darauf aufmerksam, dass seitens der Militärregierung gerade auf diesen Aspekt „großer Wert“ gelegt werde. 522 Die Bereitschaft der einheimischen Bevölkerung, sich an solchen regelmäßig wiederkehrenden Sammelaktionen zu beteiligen, nahm im Laufe der Zeit allerdings deutlich ab, bis sie dann mit der Wäh- rungsreformgänzlich von der Bildfläche verschwanden. Das Abflauen der Spendenbereitschaft ist für Korschenbroich deutlich belegt, und es spricht nichts dafür, dass die Stimmungslage in den Nachbarge- meinden anders gewesen sein sollte. Als der Düsseldorfer Regie- rungspräsident am16. Juni 1948 imNamen des Sozialministeriums die Gemeinden zur neuerlichen „Durchführung einer öffentlichen Sammlung von Hausrats- und Einrichtungsgegenständen des per- sönlichen Bedarfs“ aufrief, antwortete die dortige Amtsverwaltung, sie habe „in Verbindung mit den caritativen Verbänden“ solche Sammlungen bereits in den Jahren 1946 und 1947 durchgeführt. „Während der Erfolg im Jahr 1946 noch als zufriedenstellend be- zeichnet werden konnte, war der Erfolg im Jahr 1947 gleich Null.“ Dem sei man in einer Besprechung mit den Wohlfahrtsverbänden auf den Grund gegangen und dabei zu dem Ergebnis gekommen, „dass der größte Teil der einheimischen Bevölkerung in Bezug auf VersorgungmitHausratsgegenständen, Textilien undWäschestücken selbst bedürftig“ sei, was naturgemäß weitreichende Auswirkungen auf das Sammelergebnis gehabt hätte. Außerdem, so teilte man der Kreisverwaltung ohne nähere Erläuterungen mit, hätten „die Ost- vertriebenen die ablehnende Haltung selbst verschuldetet“. Damit muss offenbleiben, ob man den Bedürftigen fehlende Dankbarkeit, zu hohe Forderungen oder zu geringes Eigenengagement vorwarf. Was immer auch der konkrete Hintergrund gewesen sein dürfte, darf angenommen werden, dass es sich wohl weit eher um eine Schutzbehauptung, denn umein tatsächliches Verschulden gehandelt haben dürfte. Die Folgen aber waren durchaus weitreichend: Deshalb, undweil durch die zwischenzeitlich durchgeführteWährungsreform viele Gegenstände nunmehr käuflich zu erwerben seien, suchte die Korschenbroicher Verwaltung darumnach, auf eine derartige Samm- lung verzichten zu können. Zu dieser Erkenntnis war man – ver- mutlich aufgrund weiterer gleichlautender Berichte - auch in Gre- venbroich bereits gekommen, weshalb die Aufsichtsbehörde die Sammelaktion mit Blick auf die Umstellung der Währung am 2. Juli 1948 „auf unbestimmte Zeit“ verschob. 523 Das war vermutlich auch die Grundlage, auf der die entspre- chende Entscheidung in Jüchen getroffen wurde. Hier war die Ge-
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