Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

309 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN Kreisflüchtlingsamt weitergeleitet werden. Dieses Zentralisierungs- vorhaben für die Bearbeitung von Beihilfeanträgen führte das Kreisflüchtlingsamt jedoch schnell an die Grenzen seiner Belast- barkeit. Weil deren völlige Herauslösung aus den kommunalen Zu- ständigkeiten außerdem auch vor Ort einige Unruhe auslöste, wurde am 19. Juli 1948 in einer Dienstbesprechung der Gemein- devertreter in Grevenbroich beschlossen, dass die kommunalen Verwaltungen über „Beihilfen zum Erwerb dringend benötigter Gebrauchsgüter in Höhe bis zu 100,- DM“ künftig wieder in eige- ner Zuständigkeit entscheiden durften. ImGefolge derWährungs- reform stieg die Menge der Anträge derart stark an, dass ihre Bear- beitung im Kreisflüchtlingsamt nicht nur lange Wartezeiten zur Folge hatte, sondern dessen finanzielle Mittel in kurzer Zeit auf- gebraucht waren. Die Anträge, so klagte der dort Verantwortliche bereits am 2. Februar 1949 in einem Rundschreiben an die Ge- meinden, würden sich bei ihm „dergestalt schnell“ anhäufen, dass er sie nur noch „stoßweise“ bearbeiten und bei weitem nicht voll- ständig genehmigen könne. „Würde ich alle Anträge, so wie ich es an sich gern möchte, umgehend berücksichtigen, käme damit vo- raussichtlich die gesamte Finanzwirtschaft des Kreises in Zerrüt- tung.“ Nachfragen seien zwecklos und die Antragsteller seitens der Kommunen darauf hinzuweisen, dass sie sich in Geduld üben und Verständnis aufbringen müssten. Damit wurde den Kommunal- verwaltungen sozusagen der „Schwarze Peter“ zugeschoben, denn es war nun ihre Aufgabe, den zunehmend unzufriedenen Bedürfti- gen vor Ort die missliche Lage zu erklären. Weil sich die Bewilligung solcher Beihilfen auch weiterhin sehr problematisch gestaltete, sah sich der Jüchener Flüchtlingsbeirat am27. Mai 1949 veranlasst, demKreisflüchtlingsamt einen anderen Verfahrensweg vorzuschlagen. Nach der einleitenden „grundsätz- lichen“ Feststellung, „dass in den meisten Fällen die Anträge der Ostvertriebenen unbedingt zu befürworten“ seien, versuchte der von Otto Pietsch angeführte Beirat die öffentlicheWahrnehmung der in seinen Augen häufig falsch eingeschätzten aktuelle Situation der Flüchtlinge zu korrigieren. Für die oftmals prekäre Lage seien keinesfalls die Bedürftigen selbst, sondern insbesondere die Folgen derWährungsreformmit den extrem gestiegenen Lebenshaltungs- kosten verantwortlich. Daher forderte man in Jüchen mehr Kom- petenzen. Durch die bisherige zentrale Bearbeitung der größeren Anträge in Grevenbroich seien nämlich in Einzelfällen „unbillige Härten“ gerade deshalb nicht ausgeblieben, weil eben nur in den Gemeinden selbst über die tatsächlichen Bedürfnisse der dort Wohnenden geurteilt und entsprechend entschieden werden könne. Daher unterbreitete der Flüchtlingsbeirat den Vorschlag, die Gel- der, die dem Kreis für solche Beihilfen zur Verfügung stehen wür- den, nach einem Schlüssel monatlich pauschal auf die einzelnen Kommunen zu verteilen, die dann die Einzelfallentscheidungen zu treffen hätten. In seinem Begleitschreiben schloss sich der Jü- chener Amtsdirektor dieser Sicht der Dinge an und sah in dem Vorschlag „die glücklichere Lösung für die praktische Durchfüh- rung gerechter und richtiger Hilfsmaßnahmen“. – Eine Reaktion des Kreisflüchtlingsamtes auf diese Anregung ist in der Akte nicht enthalten. 529 Zunächst durften die auf öffentliche Unterstützung Angewie- senen ohnehin nur in Ausnahmefällen mit schneller Hilfe rechnen. Im „Hochneukircher Amtsblatt“ etwa wurde Anfang Juli 1949 darauf hingewiesen, dass Anträge auf einmalige Geldbeihilfen nur in dringenden Notfällen eingereicht werden sollten. Es sei vorerst nicht möglich, dass das Kreisflüchtlingsamt sämtliche Anliegen umgehend berücksichtige, weil dies „die Finanzlage auf Grund der sehr großen Anzahl vorliegender Anträge“ nicht erlaube. Einzel- nachfragen, so wurde unmissverständlich mitgeteilt, seien weder bei der Gemeindeverwaltung noch beim Kreisflüchtlingsamt „er- wünscht“. 530 Offenbar zeigten die Hilfesuchenden aber wenig Bereitschaft, sich mit solch spröden Bekanntmachungen abfertigen zu lassen. Stattdessen hielten Antragsflut und Nachfragen an, so dass sich Kreisverwaltung undHochneukircher Gemeindeverwaltung einen Monat später veranlasst sahen, „nochmals darauf hinzuweisen, dass jede Nachfrage über die Erledigung von Anträgen“ beim Kreis- flüchtlingsamt ebenso „zwecklos“ sei wie beim örtlichen Flücht- lingsamt. „Das Kreisflüchtlingsamt kann die Zuweisung der erfor- derlichen Gelder für den Kreis nicht bestimmen, sondern muss auch abwarten, bis diese eintreffen. Dann erst können und werden die vorliegenden Anträge erledigt.“ Viel Hoffnung auf eine baldige Unterstützung wurde nicht vermittelt: „Die Anträge sind zukünftig nur auf einem vorgeschriebenen Formular zu stellen, welches beim hiesigen Flüchtlingsamt in Empfang genommen werden kann und zwar auch nur in besonderenNotständen.“ Für viele der Flüchtlinge bedeutete das nicht nur eine erhebliche Enttäuschung nach oftmals langem Warten, sondern zudem neuerlichen Aufwand mit mehr als ungewissem Erfolg. „Die bisher eingereichten und noch nicht bewilligten Anträge müssen daher erneut beim hiesigen Flücht- lingsamt, wo die Formulare erhältlich sind, eingereicht werden. 531 So blieb es eher bei kleinen Gesten als bei tatsächlichen und nachhaltig wirksamen finanziellen Hilfen. Der Jüchener Gemein- derat etwa beschloss am 5. Dezember 1949 auf „Antrag der Ost- vertriebenen“ seitens der Kommune 2.000 DM als „Weihnachts- beihilfe“ zur Verfügung zu stellen, über deren konkrete Vergabe eine „besondere Kommission“ in Einzelfallentscheidungen bestim- men sollte. 532 Weil sich am Horizont immer deutlicher die ersten positiven Auswirkungen des „Wirtschaftswunders“ abzeichneten, werden immer mehr Geflohene und Vertriebene ihre Hoffnung auf öffentliche Unterstützung wohl bald begraben und sich aus- schließlich auf ihre eigene Leistungsfähigkeit verlassen haben. Au- ßerdem griffen dann mit Beginn der 1950er Jahre – wenn auch in eher bescheidenem Umfang – die an anderer Stelle bereits vorge- stelltenMaßnahmen des Soforthilfegesetzes und insbesondere des Lastenausgleichs. 533

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