Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

310 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN PROBLEMFELD 3: ARBEIT Auch das wichtige, spätestens mit der Währungsreform und dem folgendem „Wirtschaftswunder“ dann zunehmend zentrale Pro- blemfeld „Arbeit und Arbeitsplätze“ kann hier nur skizzenhaft behandelt werden. Der Arbeitsmarkt war nämlich – wie heute auch - kein eigentlich kommunales Thema, hatte aber naturge- mäß immense Auswirkungen auf die Gemeinden und deren finan- zielle und soziale Lasten sowie insbesondere auf die Flüchtlinge selbst und deren Lebensumstände. Die klare Zuordnung der Zu- ständigkeiten war den Bürgermeistern im Kreisgebiet seitens der Arbeitsämter bereits Ende 1946 mitgeteilt worden. Aufgrund „verschiedener“, leider nicht näher benannter „Vorfälle in letzter Zeit“ wies nämlich das Arbeitsamt Neuss die Gemeindeverwal- tungen am 7. Dezember 1946 darauf hin, „dass die Arbeitsver- mittlung der Ostflüchtlinge ausschließlich Aufgabe der Arbeitsämter“ sei. Sämtliche Arbeitgeber - auch private Haus- halte auf der Suche nach Haushaltshilfen oder nach Aushilfskräf- ten suchende Landwirte– seien an das Arbeitsamt als allein zuständige Instanz zu verweisen. 534 Der Hinweis auf die „Vorfälle“ deutet darauf hin, dass sich im Zeitraum vor dem Währungsschnitt eine Art „grauer“ Arbeits- markt ausgebildet hatte. Weil ein relativ wertloser Lohn kaum Anreiz bot, stellten gerade Flüchtlinge und Vertriebene ihre Ar- beitskraft gegen Unterkunft, Verpflegung und/oder eine Entloh- nung mit Sachwerten zur Verfügung, was insbesondere von den örtlichen Bauern gern und nicht selten auch durchaus ausbeute- risch genutzt wurde. Das hier von Elisabeth Schütte geschilderte Schicksal ihrer Eltern ist hierfür nur ein Beleg unter vielen. Unter solchen Prämissen entwickelte sich die Beschäftigungsquote der Vertriebenen solange positiv, wie sie weitgehend klaglos und gegen geringe (Sach-) Entlohnung jene Lücken auffüllten, die durch den Abzug der Zwangsarbeiter sowie den Tod oder die Kriegsgefangenschaft von Landwirten und Knechten in der un- mittelbaren Nachkriegszeit gerissen worden waren. Als sich die Lage in dieser Hinsicht dann ab 1947 schrittweise verschlechterte, weil Bergbau und Industrie ihre Produktionskapazitäten wieder steigerten und entsprechenden Arbeitskräftebedarf reklamierten, verwahrte sich der Grevenbroicher Kreistag am 27. Oktober 1947 in einer Resolution dagegen, „dass den Landkreisen vor- nehmlich die Erwerbsunfähigen zur Unterbringung und sozialen Betreuung zugewiesen werden, während die für den Arbeitsmarkt wertvollen Heimatlosen in der Hauptsache den Großstädten ohne den Anhang der sozial zu Betreuenden zugeführt werden”. 535 Nach dem 20. Juni 1948 dauerte es bis etwa zum Jahresende, bis sich der Arbeitsmarkt positiv entwickelte, wobei die deutliche Verbesserung zunächst allerdings nicht von Dauer war. Vor allem die Nahrungsmittelindustrie florierte nach den Entbehrungen der zurückliegenden Jahre derart, dass das Arbeitsamt Neuss- Grevenbroich als erstes in der gesamten britischen Zone eine Dringlichkeitsliste für die Zuweisung von Arbeitskräften ein- richten musste, weil rund 2.000 Stellen nicht besetzt werden konnten. Der Boom dauerte allerdings nur bis zum Mai 1949, als die Konjunktur vorübergehend einbrach. 536 Viele Vertriebene versuchten im Kreisgebiet und in der Stadt Neuss selbstständige Existenzen im Gewerbe oder im Handel aufzubauen. Der hier mit einem ausführlichen Bericht vertretene Fritz Stöckel ist geradezu ein „Paradebeispiel“ für diesen mit gro- ßem Fleiß verbundenen Aufbau- und Aufstiegswillen. Bis 1950 gingen beim Amt für Soforthilfe des Kreises 167 Anträge auf Gewährung eines Existenzaufbaudarlehns ein, von denen allein 46 und damit überproportional viele von Vertriebenen gestellt wurden. Allerdings konnte zu dieser Zeit nur ein kleiner Teil dieser Anträge positiv beschieden werden. Insgesamt, so das Er- gebnis einer kreisweiten Untersuchung, hätten sich die Behörden bei der Gründung von Vertriebenenbetrieben zumindest formal insofern großzügig gezeigt, als sie bei der Kreditgewährung z.T. auf die Vorlage sonst notwendiger Papiere wie etwa von Meis- terurkunden verzichtet hätten. 537 Das Beispiel von Fritz Stöckel, dem seitens der Handwerkskammer einige hohe Hindernisse auf- gebaut wurden, zeigt aber auch, wie steinig für viele der Weg in die Selbstständigkeit war und wie argwöhnisch die einheimischen Handwerker und Kaufleute auf Besitzstandwahrung ausgerichtet waren. Noch weitaus problematischer als bei anderen Berufszweigen gestaltete sich die berufliche Reintegration der geflohenen und vertriebenen Landwirte. Anfang der 1950er Jahre hielten sich im Kreisgebiet rund 800, in der Stadt Neuss etwa 120 von ihnen auf. Neben staatlich geförderten Maßnahmen blieb ihnen, die ihren Grundbesitz ja komplett verloren hatten und völlig besitzlos im Westen angekommen waren, lediglich die Möglichkeit der Pacht, die aber – sofern überhaupt Land zur Verfügung stand - auch nur schwer zu finanzieren war. In ganz wenigen Fällen – Werner Schuh ist hierfür ein Beispiel – blieb der Weg des Ein- heiratens in einen bestehenden einheimischen Betrieb. Bis zum Jahr 1951 gelang es mit Blick auf den gesamten Landkreis ledig- lich 72 ostvertriebenen Landwirten, wieder Land zur eigenen Bewirtschaftung zu erwerben, zwölf kamen in Pachtverhältnisse und drei heirateten in Gehöfte ein. 538 Für Hochneukirch ist eine Statistik erhalten, die für die Jah- resmitte 1949 einen Blick auf die früheren und aktuellen Be- schäftigungsverhältnisse der arbeitsfähigen Flüchtlinge und Ver- triebenen ermöglicht.

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