Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

313 VOR ORT: FLÜCHTLINGE IN JÜCHEN Fronleichnamsprozession in Jüchen, 1950. Hier wird der Segen am Altar in der Steinstraße erteilt. Die Zahlen belegen, dass der prozentuale Anteil von Protes- tanten an der Bevölkerung in den hier untersuchten Gemeinden im Vergleich zu vielen Nachbarorten bereits Ende 1946, das heißt nach Abflauen der großen Zuwanderungen im Rahmen der „Ak- tion Schwalbe“, vergleichsweise hoch lag, danach aber nur noch unwesentlich anstieg. Den insgesamt jedoch deutlichen Anstieg der Zahl ihrer Gläubigenmussten die einzelnen Kirchengemeinden zunächst einmal verkraften undmittels struktureller Veränderungen darauf reagieren. Für Jüchen liegen hierüber nähere Informationen vor. 543 Die dort beheimatete Evangelische Kirchengemeinde zeigte hinsichtlich ihrer soziologischen Struktur bis zum Jahre 1945 eine typisch nie- derrheinische Ausprägung. Trotz ihrer großen räumlichen Aus- dehnung zählte sie lediglich 800 bis 900 Angehörige. Die Verhält- nisse veränderten sich schlagartig und grundlegend, als imHerbst 1945 der große Zuzug von Flüchtlingen und Vertriebenen einsetzte und die Zahl der Gemeindemitglieder um mehr als das Doppelte und bis November 1956 auf rund 2.100 anstieg. 544 Der immense Zuwachs stellte die Kirchengemeinde vor völlig neue Aufgaben. Bereits im November 1945 war neben der „Gemeindehilfe“ auch eine „Flüchtlingshilfe“ eingerichtet. Zur geistlichen Versorgung der angewachsenen Gemeinde wur- den neue örtliche Einrichtungen geschaffen. So wurde in Hoch- neukirch, in dem zu jenem Zeitpunkt bereits 320 Protestanten wohnten, im Sommer 1946 ein eigener Gottesdienst eingeführt, der zunächst einmal, seit Anfang 1950 dann zweimal monatlich im Saal des dortigen Kinos stattfand. Dieser „unwürdige Zustand“ konnte keine Dauerlösung darstellen, so dass das Presbyterium am 3. August 1952 den Beschluss fasste, „auf dem von dem verstorbe- nenHerrn Kommerzienrat Busch und seiner Gemahlin gestifteten Grundstück in Hochneukirch durch Herrn Architekt Sander aus Bedburg eine Kapelle bauen zu lassen“. 545 Der Bau, mit dem um- gehend begonnen wurde, konnte bereits am 21. Dezember 1952 eingeweiht werden. So wurde der 4. Advent für die evangelische Kirchengemeinde zum „Freudentag“: „Was niemand für möglich gehalten hatte, ist Wirklichkeit geworden. Der erst im Sommer begonnene Kapellenbau ist schon fertiggestellt und soll seiner Be- stimmung übergeben werden.“ 546 Auch in Belmen und in Bedburdyck wurde seit 1950 je einmal imMonat Gottesdienst gehalten. In Garzweiler dauerte es hingegen bis zum 22. Januar 1956, bis den zahlreichen Wünschen aus der Dorfbevölkerung entsprochen wurde und im Klassenraum der Schule endlich der erste evangelische Gottesdienst stattfinden konnte, an dem60 Gemeindemitglieder teilnahmen. Danach wurde er alle 14 Tage abgehalten. 547 Etwaige Konflikte zwischen einheimischen und zugezogenen Protestanten sind den Presbyteriums-Protokollen aus jener Zeit nicht zu entnehmen. Man beschritt offenbar einenWeg behutsamer Integration. Als Anfang 1948 ein „Ältester“ ausschied, beschloss das Gremium, dass „dafür ein Flüchtling aus Bedburdyck oder Umgegend vorgeschlagen werden soll“. Ganz problemlos dürfte das Zusammenwachsen jedoch kaum erfolgt sein. Zwar heißt es über Jüchen, dass man hier „unterWahrung des historisch gewach- senen reformierten Bekenntnisstandes“ durchaus bemüht gewesen sei, die meist im lutherischen Verständnis wurzelnden Flüchtlinge in die Gemeinde einzugliedern, doch konnten Reibereien bei der „religiösen“ Integration kaum ausbleiben. Die meisten rheinischen Protestanten folgten nämlich – wie beispielsweise in Jüchen - der reformierten Richtung oder hatten sich – wie in Otzenrath - nach einer reformierten Phase der unierten Form zugewandt, während die Neuankömmlinge aus demOsten zumeist lutherisch orientiert waren und daher etwa einen anderen Katechismus benutzen. In- wieweit es innerhalb der beiden genannten Gemeinden in dieser Frage aber tatsächlich zu Auseinandersetzungen kam, ist beim der- zeitigen Quellen- und Wissensstand nicht zu entscheiden. 548 Auch für den Aspekt „Religion und kirchliche Arbeit“ gilt mit Blick auf die Lage von Flüchtlingen und Vertriebenen, was bereits für andere Bereiche festgestellt wurde: Die tatsächlichen Nöte vor Ort wurden in aller Regel nicht schriftlich fixiert und das, was da- mals vielleicht doch auf Papier festgehalten wurde, hat die Zeit aus unterschiedlichsten Gründen nicht überdauert. Daher muss auch in diesem Punkt das meiste eher vage und „blutleer“ bleiben, weil – wenn überhaupt – stets nur allgemeinere Entwicklungen skizziert werden können, während persönliche Schicksale außen vor bleiben müssen. In dieser Hinsicht ermöglichen die hier prä- sentierten Lebensgeschichten von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen immerhin einige Einblicke in deren Erleben und Empfinden auf religiösem Terrain. Außerdem hat sich für Otzenrath ein unda- tierter, vermutlichMitte 1947 von Pfarrer Günther Seven verfasster Bericht erhalten, in dem er über die damalige Situation in der evan- gelischen Kirchengemeinde Otzenrath berichtet.

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