Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
314 DIE NACHKRIEGSZEIT IN JÜCHEN Wie im ganzen deutschen Vaterlande, so haben auch in der evangelischen Kirchengemeinde Otzenrath der Krieg und die Nachkriegszeit größte Veränderungen mit sich gebracht. In den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch ging unsere schöne Kirche in Trümmern. Das Jahr 1946 brachte uns durch den Zu- strom der Ostvertriebenen die Verdopplung unserer Gemeinde, so dass wir jetzt 1.100 Seelen zählen. Wir standen vor der Schwierigkeit, keinen geeigneten Gottesdienstraum mehr zu haben. In der ersten Zeit nach dem Zusammenbruch genügte für die wenigen Einheimischen unser kleiner Betsaal, der im Pfarrhaus leidlich erhalten geblieben war. Der Flüchtlingsstrom ließ aber die Zahl der Gottesdienstbesucher so anwachsen, dass der kleine Raum nicht mehr ausreichte und wir uns nach einer neuen Unterkunft für unsere Gottesdienste umsehen mussten. Es gab keine andere Wahl als das katholische Pfarr- heim, das uns bereitwillig zur Verfügung gestellt wurde. Denn andere Räume waren in unserem durch den Krieg stark in Mit- leidenschaft gezogenen Dorfe nicht vorhanden. Das hätten sich unsere Väter aus der Frühzeit der Gemeinde auch nicht träumen lassen, dass ihre Nachfahren noch einmal bei ihren damaligen Bedrängern und Verfolgern einen gottesdienstlichen Raum erbitten müssten. Dabei sehnen wir uns nach unserer Kirche. Seit einigen Wochen wird wieder an ihr gebaut. Aber es kann nur langsam vorangehen. Zu groß sind die Schäden, die der Krieg verursacht hat und zu groß die Schwierigkeiten, die heute zu überwinden sind, um all das herbeizuschaffen, was zu einem Bau benötigt wird. Man kann in der Gemeinde eine rührende Liebe zu unserem Gotteshaus feststellen. Wenn ich Gemeindeglieder in den Außenorten unserer Gemeinde be- suche, ist die erste Frage: ‚Was macht der Kirchbau?‘ So wün- schen alle den Tag herbei, an dem wir wieder Gottesdienst in unserer Kirche halten können. Besondere Aufgaben erwachsen dem Pfarrer der Diaspora auf dem Schulgebiet. Früher gab es hier eine evangelische Schule, die auch von den wenigen Kindern unserer Gemeinde- glieder aus den Außenorten besucht wurde. Nun ist die Zahl der Kinder so groß geworden, dass wir wohl in Otzenrath eine zweiklassige evangelische Volksschule wieder haben, an allen katholischen Volksschulen der Außenorte aber für die vielen evangelischen Kinder einen regelrechten evangelischen Reli- gionsunterricht durchführen müssen. Da dafür eine evangeli- sche Lehrkraft nicht vorhanden ist, fällt diese Aufgabe natürlich auch dem Pfarrer zu. Wenn man bedenkt, dass dieser Unterricht an vier Orten erteilt werden muss, die alle mehrere Kilometer auseinander liegen, wird man verstehen, wie viel Zeit und Kraft dafür aufgewandt werden müssen. Im Sommer geht es noch, weil mich dann mein Fahrrad überall hinbringt. Sehr viel schwie- riger wird es aber im Winter, wenn es unmöglich wird, mit dem Rad zu fahren und dann alles zu Fuß zurückgelegt werden muss. Dann bedeutet dieser Dienst auch eine große körperliche Anstrengung, wenn bei Wind und Wetter alle Wege zu Fuß zu- rückgelegt werden müssen. Für den Unterricht selbst besteht die große Schwierigkeit, dass keinerlei evangelische Religions- bücher vorhanden sind. So bleiben unsere Kinder darauf an- gewiesen, das zu behalten, was ihnen erzählt wird. Große Schwierigkeiten bestehen auch beim Besuch des kirchlichen Unterrichts. Unsere Gemeinde hat einem alten Her- kommen gemäß einen vierjährigen kirchlichen Unterricht. Nun sind dabei eine große Reihe Kinder, die bis zu einer Stunde Weg bis zum Unterricht haben. Was das für die Kinder bedeutet, wenn es im Winter nass und kalt ist und sie als Flüchtlinge keine Schuhe haben, kann man sich vorstellen. Große Not macht die Raumfrage. Die Zerstreutheit der Ge- meinde über acht Ortschaften macht es notwendig, die kirch- liche Arbeit in mancherlei Abteilungen aufzuteilen. Dann ergibt sich aber sofort wieder die Raumnot, weil wir in keinem unserer Außenorte über einen gemeindeeigenen Raum verfügen, ja in manchen Orten gibt es nicht einmal einheimische Familien, die in der Lage wären, für die ein oder andere kirchliche Veran- staltung ein Zimmer zur Verfügung zu stellen. Die große Zahl unserer Flüchtlingskinder machte die Ein- richtung eines Kindergartens dringend erforderlich, zumal die meisten Mütter irgendeiner Beschäftigung nachgehen, um sich den Lebensunterhalt zu verbessern. Das wird aber sofort auch wieder unmöglich, weil sich diese Kinder ja auch auf neun Ort- schaften verteilen und eine Betreuung durch eine Kindergärt- nerin oder Schwester gar nicht möglich ist. Besondere Liebe erfordert die Arbeit an den Ostvertriebe- nen. Sie kommen zu uns mit ihren mancherlei Nöten. Da müssen dann der Pfarrer oder seine Frau für alles Rat wissen. Großer Andrang herrscht an jenen Tagen im Pfarrhaus, wenn wir Gaben des evangelischen Hilfswerks aus amerikanischen Spenden verteilen können. Da werden das untere Stockwerk zum Kon- fektionsladen und das Studierzimmer zum Schuhgeschäft. Nicht immer ist es möglich, für alle das Richtige zu haben. Wenn dann ein altes Mütterchen über eine Stunde weit herge- kommen ist und man ihr dann nichts mitgeben kann, weil für sie nichts Passendes da ist, dann ist die Enttäuschung groß. Groß aber ist die Freude bei denen, die beglückt mit ihren Schätzen abziehen dürfen und man den Eindruck haben darf, wieder ein klein wenig der größten Not gewehrt zu haben. Wenn man von den Vertriebenen ihr Schicksal erzählt hört – und es kommt immer wieder dazu -, so erhält man einen Querschnitt durch die Not unserer Tage und durch das unsägliche Leid, das über Deutschland gekommen ist. Und dann kommen diese Menschen aus rein evangelischen Gebieten nun in Dörfer, die bisher zum Teil rein katholisch waren. Wenn es dann hier und da in den Häusern nicht klappt, dann wird auch leicht die Glau- bensspaltung in den Vordergrund gestellt, und der Riss wird ärger. Andererseits haben auch manche dadurch wieder den PFARRER GÜNTHER SEVEN BERICHTET: „VOM DIENST AM EVANGELIUM IN DER DIASPORA“
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