Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

318 DIE NACHKRIEGSZEIT IN JÜCHEN Die großen Wanderbewegungen, die die ersten Nachkriegsjahre prägen, bleiben naturgemäß auch den stets gut beobachtenden Kindern nicht verborgen, zumal sie sich oftmals unmittelbar mit dem Weg- oder Zuzug ihnen unbekannter Menschen konfron- tiert sehen. So erlebt Irmgard Coenen in den ersten Wochen nach der Besetzung Jüchens, wie zunächst einmal all jene, die in diesen unruhigen Tagen Unterkunft in der elterlichen Woh- nung gefunden haben, schnell wieder ausziehen. „Wir lebten wieder allein im Haus“ – allerdings nicht lange. Sehr bald zieht das Ehepaar Schwarz ein, das aus dem Su- detenland kommt, aber Jüchener Wurzeln hat. Ludwig Schwarz entstammt der gleichnamigen örtlichen Fabrikantenfamilie, ist Mitinhaber des Unternehmens Schwarz & Klein auf der Kölner Straße und hat nach 1938 ein eigenes Unternehmen im Sude- tenland gegründet, das er bei Kriegsende offenbar fluchtartig verlassen muss. Weil auch das Elternhaus in Jüchen requiriert ist, muss er anderweitig unterkommen, was ihn und seine Fa- milie mittels Zuweisung durch die Gemeindeverwaltung schließ- lich in Irmgard Coenens Elternhaus Am Markt 7 führt. Bei diesem Zuzug, so ordnet Irmgard Coenen dieses Erleb- nis ein, habe es sich um eine „Vorstufe“ von der späteren großen Welle von Flüchtlingen und Vertriebenen gehandelt. „Das waren schon Flüchtlinge, aber es waren Jüchener“, was natürlich ein großer Unterschied gewesen sei. Das Ehepaar Schwarz habe etwa ein Jahr in ihrem Elternhaus gewohnt, erzählt Irmgard Coenen weiter – „und man musste schon wieder zusammen- rücken“, indem man das Schlafzimmer räumt und Küche sowie Bad teilt. Weil ihre Mutter zwischenzeitlich mit dem vierten Kind schwanger ist und die Familie damit bald auf sechs Personen anwachsen wird, empfindet man im Hause Krapohl die Enge als immer unangenehmer. „Also, wir fanden das nicht so su- perschön und waren froh, als die wieder weg waren.“ DIE NACHKRIEGSZEIT IN JÜCHEN AUS DER SICHT VON ZEITZEUGEN - TEIL 4 Flüchtlinge Zwischenzeitlich sind auch in Jüchen die Vertriebenen eingetrof- fen, wovon Familie Krapohl aufgrund der Schwarz-Einquartierung jedoch nicht betroffen ist. Aber natürlich wird das Phänomen „Flucht und Vertreibung“ zum Ortsgespräch. „Ostpreußen, Westpreußen, Pommern – all diese Namen wurden genannt.“ Irmgard und ihre Schwestern werden recht behutsam auf die neuen Mitbürger vorbereitet, denn ihr Vater, der zu Beginn des Krieges in Ostpreußen stationiert war, hat seinen Töchtern mit Begeisterung von der schönen Landschaft und dort gewonne- nen Freunden erzählt. Vor allem aber macht er von Beginn an mit Blick auf die Neuankömmlinge deutlich: „Das sind Deut- sche!“ Daher habe man in der Familie eine gewisse „Nähe zu den Vertriebenen“ entwickelt, fasst Irmgard Coenen die inner- familiäre Stimmung jener Jahre zusammen. Das sei aber na- türlich, so räumt sie ein, nicht zuletzt deshalb recht leicht ge- fallen, weil man sich, nachdem Familie Schwarz das Haus wieder verlassen habe, persönlich nicht habe einschränken müssen, denn es habe keine neuen Einweisungen mehr gege- ben. „Die verteilten sich mehr auf die Bauerhöfe um Jüchen herum“, weil es dort Stallungen und Knechtstuben gibt, die für längere Zeit als provisorische Unterkünfte dienen können und müssen. Aber auch im Ort selbst gibt es teils sehr lang genutzte Pro- visorien. So erzählt Hubert Knabben von den beiden Klassen- räumen der alten Schule, die längere Zeit als Flüchtlingsunter- künfte genutzt werden. Besonders gut ist ihm die Unterbringung des an anderer Stelle näher vorgestellten Werner Schuh erin- nerlich, der mit seiner Familie jahrelang im engen und einfachen Anbau des Hauses Meising habe leben müssen. „Ich weiß, dass dieser Anbau ein sehr baufälliges Gebäude war.“ Die Begegnung mit gleichaltrigen Flüchtlingskindern emp- findet der zehnjährige Hubert zunächst als etwas „Fremdes“. „Ja, wo kommen die denn her?“, hätten er und seine einheimi- schen Freunde sich gefragt. Solche Unsicherheiten und Dis- tanzierungen sind im schulischen Umfeld aber recht schnell verschwunden. Auch Werner Schuhs Schwester Christa, die seinem Jahrgang angehört, sei sehr bald integriert gewesen und von Schulkameradinnen sogar in den Mädchenclub „Der tolle Eimer“ aufgenommen worden. „Das war dann kein Thema mehr.“ Wenn es doch einmal Probleme und Konflikte gegeben habe, so erzählt Hubert Knabben weiter, hätten die sich zumeist da- raus ergeben, dass sich Einheimische im Vergleich zu den Neu- ankömmlingen ungerecht behandelt gefühlt hätten. „Ja, hast Du schon gehört? Die sind wieder zum Bürgermeisteramt ge- gangen und haben schon wieder einen Schuh- oder Kleidungs- bezugschein bekommen. Und guck Dir mal meine Schuhe an. Die sind auch nicht besser!“ Ihm persönlich seien solche Fälle von zumeist ungerechtfertigtem Sozialneid schon damals zu- wider gewesen, weil sie stets der pauschalen Aburteilung der Flüchtlinge und Vertriebenen bedient hätten. Dass der Integrationsprozess unter Kindern und Jugendli- chen augenscheinlich schneller und reibungsloser verläuft, lässt sich auch daraus ableiten, dass weder Irmgard Coenen noch Hubert Knabben sich an größere Reibereien zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen in der Schule erinnern

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