Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
32 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: DIE LAGE IM OSTEN Potsdamer Konferenz Über die Behandlung Deutschlands nach gewonnenem Krieg hatten sich die Alliierten seit 1943 auf mehreren Konferenzen ver- ständigt. Als sich die „Großen Drei“ - US- Präsident Roosevelt, der britische Premier- minister Churchill und der sowjetische Diktator Stalin - im Februar 1945 in Jalta auf der Halbinsel Krim trafen, legten sie ihre zentralen Nachkriegsziele fest: Das Land sollte vollständig entwaffnet und entmilita- risiert und mit hohen Reparationen belegt werden. Unter diesen Prämissen trafen die Alliierten vom 17. Juli bis 2. August 1945 im Schloss Cecilienhof in Potsdam zu ihrer letzten Kriegskonferenz zusammen und legten im „Potsdamer Abkommen“ ihre Beschlüsse, Vereinbarungen und Absichtserklärungen nieder. Die wichtigsten Verabredungen der Potsdamer Konferenz betrafen die Auftei- lung des Deutschen Reiches in vier Besat- zungszonen, die Festlegung politischer und wirtschaftlicher Grundsätze für die Behand- lung Deutschlands in der Besatzungszeit. Hierunter fielen unter anderem die Ausübung der Regierungsgewalt durch die Oberbe- fehlshaber der alliierten Streitkräfte in ihren jeweiligen Besatzungszonen, die völlige Ab- rüstung und Entmilitarisierung, Auflösung al- ler Streitkräfte, Aufhebung aller nationalso- zialistischen Gesetze, Entnazifizierung der Bevölkerung, Verhaftung und Verurteilung der Kriegsverbrecher sowie die Demokrati- sierung von Erziehungssystem, Justiz, Ver- waltung und des öffentlichen Lebens. Die Potsdamer Konferenz beschäftigte sich eingehend mit der Frage der Übertragung der bis dahin deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße an Polen und mit dem Um- gang der dort lebenden deutschen Bevöl- kerung. Trotz unterschiedlicher Sichtweisen einigten sich die Alliierten in Artikel XIII der Potsdamer Beschlüsse schließlich wenig präzise auf folgendes Vorgehen: „Die Kon- ferenz erzielte folgendes Abkommen über die Ausweisung Deutscher aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn: Die drei Re- gierungen haben die Frage unter allen Ge- sichtspunkten beraten und erkennen an, dass die Überführung der deutschen Bevöl- kerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zu- rückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muss. Sie stimmen da- rin überein, dass jede derartige Überfüh- rung, die stattfinden wird, in ordnungsge- mäßer und humaner Weise erfolgen soll.“ Zugleich wurde dem polnischen Staat die Verwaltungshoheit in den betreffenden Re- gionen übertragen. Damit wurde die Oder- Neiße-Linie von den Westmächten vorläufig anerkannt, während deren endgültige Fest- legung als deutsche Ostgrenze in einem Friedensvertrag erfolgen sollte. Trotz der in Potsdam festgelegten Grund- sätze herrschten in den Gebieten östlich von Oder und Neiße weiterhin chaotische Zustände. Deutsche wurden häufig willkür- lich und ohne Vorwarnung ausgewiesen und ihr Eigentum, Grund und Boden entschädi- gungslos konfisziert. Der Beschluss des Alliierten Kontrollrats sah vor, die im nörd- lichen Ostpreußen, in den polnisch besetzten Gebieten, in der Tschechoslowakei und in Ungarn verbliebenen Deutschen auszu- weisen und nach Deutschland abzuschieben. Von den hiervon be- troffenen 6,65 Millionen Menschen sollten 2,75 Millionen in der sowjetischen, weitere 2,25 Millionen in der amerikanischen, 1,5 Millionen in der britischen und 150.000 in der französischen Zone aufgenommen werden. Noch bevor diese zum größten Teil mittels Eisenbahntransporten durchzuführenden und unter der Aufsicht der jeweiligen Besatzungsmacht stehenden Umsiedlungen began- nen, verließen bis zum Jahresende 1945 annähernd 550.000 Deut- sche die nunmehr polnischen Gebiete „freiwillig“. 59 Mit ihren Beschlüssen hatten die Alliierten in PotsdameinGroß- experiment nie gekannten Ausmaßes angestoßen, das nicht weniger darstellte, als die „größte ethnische Säuberung der europäischenGe- schichte“. Für eine Zwangsumsiedlung dieser Größenordnung und dazu noch unter den schwierigen Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es weder ein Vorbild noch Erfahrungen und daher auch keinerlei ausgearbeiteten Pläne der Alliierten. Vor allem hatte man keinerlei Überlegungen darüber angestellt, wie man den Entwurzelten und zumeist Traumatisierten einenNeuanfang an un- bekannten Orten erleichtern könnte. Man brachte die Flüchtlinge ganz pragmatisch dort unter, wo Platz war, nicht, wo sie sich aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder Ausbildung hinsichtlich Anpassung und Integration möglicherweise leichter getan hätten. 60 Die auf Grundlage der Potsdamer Vereinbarungen im Herbst 1945 begonnene Räumung Hinterpommerns, Westpreußens, des südlichen Ostpreußen und Oberschlesiens musste in den Winter- monaten unterbrochen werden und wurde imFebruar 1946 wieder aufgenommen. Bis Dezember des Jahres erfolgte nunmehr eine systematische und organisierte Aussiedlungen in Absprache mit den Alliierten, durch die im Zuge der „Operation Schwalbe“ bis zum Jahresende rund 1,4 Millionen Deutsche direkt in die West- zonen kamen. 61 Trotz des nunmehr offiziellen Charakters der als „Aussiedlung“ definierten Vertreibungen ging es weiterhin rau und nicht selten brutal zu. Für die Räumung der Häuser sowie die Bewachung der Kolonnen, Trecks und Züge zeichnete in aller Regel das jeweilige Militär verantwortlich. Nicht selten nutzten die Soldaten die Ge- legenheit und plünderten die hilf- und schutzlosen Auszusiedeln- den aus. Sie wurden zunächst zu lokalen Sammelpunkten – oft Bahnhöfe – gebracht, die hinsichtlich der hygienischen Verhältnisse naturgemäß nicht auf solche Menschenmassen eingestellt waren. Dort wurde nochmals die nationale Zugehörigkeit überprüft sowie Lebensmittel undHandgepäck, soweit sie die zugelassenenMengen überstiegen, beschlagnahmt. Bei solchen Gelegenheiten wurden die Wartenden oftmals um ihr letztes Hab und Gut gebracht. 62 Bis zum Jahresende 1947 hatte der allergrößte Teil der deutschen Bewohner die früheren Ostprovinzen des Reiches unter den hier nur kurz skizierten Umständen verlassen müssen und war in einer
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