Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

323 VOR ORT: ANPASSUNG ODER INTEGRATION? Vertriebener an einer baldigen Rückkehr in ihre Heimat. So lange solche Hoffnungen gehegt wurden, waren innerhalb von Flücht- lingsgruppen private und berufliche Bindungen an einheimische Kreise nicht gern gesehen. Vertriebene, die es dennoch versuchten, galten dann schnell als „Verräter an der Heimat” und wurden ent- sprechend behandelt. Als den Flüchtlingen und Vertriebenen dann aber Anfang der 1950er Jahre zunehmend bewusst wurde, dass sie sich auf einen längeren Aufenthalt imWesten einstellen mussten, stieg zugleich die Bereitschaft zur beruflichen und gesellschaftlichen Integration. Vehikel waren auch hierbei häufig die Vereine. 565 „Man hatte unterschiedliche Ansichten, und man verstand ei- nander nicht“, lässt sich die problematische Gemengelage der ersten gemeinsamen Jahrzehnte auf den Punkt bringen. 566 Zu Vieles er- schien gegenseitig fremd, was auch damit zusammenhing, dass die meisten Einheimischen überhaupt keine Vorstellung vom Osten hatten und sich nur in selten Fällen bemühten, ihrWissen hierüber zu verbessern. Der Vater von Irmgard Coenen, der seiner Familie die Schönheiten und Gebräuche Ostpreußens näherzubringen ver- suchte, stellte hierin wohl eher eine seltene Ausnahme dar. Unter solchenUmständen blieb alsWeg zur Integration zumeist nur eine weitgehende einseitige Anpassung. Sie wurde „zur Vo- raussetzung für den Erwerb einer neuen ‚Heimat’“, der damit aber weit eher einer erzwungenen Assimilation glich, die ein hohes Maß an kultureller Selbstaufgabe erforderte. 567 Das Kind aus Ostpreu- ßen, Pommern oder Schlesien sprach sehr bald pfälzisch, hessisch oder rheinisch, weil insbesondere die Kinder Verdrängung und Anpassung als Überlebensprinzip erkannten und lebten. 568 So be- richtete der Chronist der evangelischen Volksschule Hochneukirch im Frühjahr 1953 über deren 92 Schülerinnen und Schüler, von Das war dann wohl auch die Basis, auf der sich eine so langsame wie langwierige Integration vollzog. Die Vereine öffneten sich nur schrittweise den neuen Mitgliedern, die ihrerseits die von ihnen erwarteten Verhaltensweisen an den Tag zu legen hatten. Unter sol- chen Bedingungen waren selbst die konservativ-katholischen länd- lichen Schützenbruderschaften, die in manchen Dörfern bis dahin die letzten geschlossenen Bastionen der Einheimischen gewesen waren, bereit, ihre Reihen für die Flüchtlinge aus dem Osten zu öffnen. 563 Erste zaghafte Versuche einer solchen Annäherung da- tierten in den kleinerenOrtschaften des Landkreises auf den Beginn der 1950er Jahre. 1952 beteiligten sich beispielsweise in Kapellen erstmals „Vertriebene“ mit einem „feinen Zug” am Schützengesche- hen, umnach demDafürhalten der Neuß-Grevenbroicher Zeitung damit unter Beweis zu stellen, dass sie „eine lebendige Verbindung mit den Einheimischen” einzugehen bereit waren. In späteren Jahren sollten die Schützenvereine dann insbesondere in Neubaugebieten die weitere Integration von Geflohenen und Vertriebenen erleich- tern. 564 Für die evangelischen Zuwanderer waren solche Wege der Anpassung allerdings erheblich schwerer zu beschreiten, denn der Zugang zu den katholischen Schützenbruderschaften blieb ihnen noch lange Zeit verwehrt. - Heute lässt sich von solchen Problemen der Annäherung kaum noch etwas erahnen. So wurde etwa Gerd Bandemer, der Bruder der hier mit ihrer Lebensgeschichte vertre- tenenHannelore Beulen, als Protestant nicht nurMitglied, sondern sogar Präsident der Hochneukircher Schützen! Dafür, dass bis zu einer weitreichenden Integration viel Zeit ins Land gehen musste, dürfen jedoch nicht einseitig nur die Ein- heimischen verantwortlich gemacht werden. Schwierigkeiten er- gaben sich auch aus dem Festhalten vieler älterer Geflohener und Schützenfest in Hochneukirch 1950 1. Mannschaft F.C. Viktoria Jüchen, um 1945

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