Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

324 VOR ORT: ANPASSUNG ODER INTEGRATION? denen 55 Flüchtlingskinder waren: „Während vor Jahren noch jedes Flüchtlingskind an seiner Sprache sofort herauszukennen war, ist heute kaum noch ein Unterschied festzustellen; alle spre- chen unverfälscht die Hochneukircher Mundart. Sie sind schneller heimisch geworden, und viele können sich kaum noch an ihre Hei- mat erinnern. So ist es die Aufgabe der Schule, in ihnen das Wissen von dem Land und den Menschen der verlorenen Ostgebiete zu fördern und zu vertiefen.“ 569 Gerade diese Kinder und Jugendlichen, denen oftmals die Funk- tion des Bindeglieds zwischen Flüchtlingen und Einheimischen zugewiesen wurde, mussten lernen, mit einem „inneren Spagat“ umzugehen: Die Schule und die neue Heimat setzten sie unter starken Anpassungsdruck, und auch die Eltern wollten mittels ihrer Kindern beweisen, dass „wir aus dem Osten so gut sind wie die Einheimischen“. Aber die Eltern empfanden die Aufgabe des alten Dialekts oder die Übernahme neuer Sitten auch als Verrat. So pendelten die Kinder ungewollt zwischen zwei Welten und sich ausschließenden Anforderungen, denen sie nicht gleichzeitig ge- nügen konnten. Selbst wenn sie äußerlich auch alle Erwartungen erfüllten, fühlten sie sich innerlich oft zerrieben. 570 Elisabeth Schütte und ihr Bruder Alfred Müller sind in dieser Hinsicht ein Beleg dafür, wie unterschiedlich die Lösungsstrategien selbst unter Geschwistern ausfallen konnten. Während sie sich zeitlebens wei- gerte, die rheinische Mundart anzuwenden und so ihre schlesische Identität aufzugeben, übernahm ihr nur wenig jüngerer Bruder wie selbstverständlich die Sprache seiner Schul- und Spielkamera- den und galt daher schnell als einer von ihnen. Nachdem einige Zeit ins Land gegangenwar und die Kinder und Jugendlichen zu jungen Erwachsenen herangewachsenwaren, wurde dann das Heiratsverhalten zum „besonderen Prüfstein auf demWeg zur gleichberechtigten Teilhabe“. 571 Einige der hier vorgestellten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen berichten über ihre diesbezüglichen Erfahrungen. Tatsächlich stiegen nach einer Phase nahezu vollstän- diger gegenseitiger Abschottung die Zahlen von Eheschließungen zwischen Einheimischen und Vertriebenen seit Beginn der 1950er Jahre auch in ländlichen Regionen an. So berichtete das Standesamt der sich aus elf Dörfern 572 zusammensetzenden, zu jenemZeitpunkt 4.154 Einwohner zählendenGemeinde Bedburdyck Ende 1951 von insgesamt 55Geburten.Weiter hieß es: „21Knaben und 19Mädchen stammen aus Ehen hiesiger Eltern, siebenKnaben und dreiMädchen aus Ehen, von denen ein Partner Flüchtling und der andere ein Ein- gesessener ist. Zwei Knaben und drei Mädchen stammen aus reinen Flüchtlingsfamilien. Von den 59 Eheschließungen entstammen 38 Paarte zu beiden Teilen der heimischen Bevölkerung. Bei 16 Ehen entstammt ein Partner der hiesigen Bevölkerung und der andere Partner dem Vertriebenenkreis. Fünf Paare sind reine Flüchtlingse- hen.“ Insgesamt zählte man in der Gemeinde zu diesem Zeitpunkt 538 Flüchtlinge der Kategorie „A“ und 45 der Kategorie „B“ sowie noch immer 151 „Evakuierte“ aus Kriegszeiten. 573 WOHNUNGSNOT UND WOHNUNGSBAU Von den großen Problemen bei der Unterbringung der Neuan- kömmlinge und den häufig völlig unzumutbarenZuständen in deren improvisierten Unterkünften war bereits ausführlich die Rede. Wie ebenfalls bereits dargelegt, war dasThema „Wohnungsnot undWoh- nungsbau“ aber nicht nur für Flüchtlinge und Vertriebene, sondern für die gesamte deutsche Bevölkerung eines der herausragenden Pro- bleme der erstenNachkriegsjahrzehnte, das unbedingt (schrittweise) zu lösenwar. Vertriebene, „SBZ-Flüchtlinge“, junge Familien: sie alle benötigten dringend bezahlbarenWohnraum, den es nicht gab. Aus einem Bericht der Kreisverwaltung Grevenbroich an die Militärre- gierung vom 24. April 1947 geht beispielsweise hervor, dass im ge- samtenKreisgebiet imMonatMärz ganze zweiWohnungenmit vier Räumen wiederhergestellt worden waren. Insgesamt standen zu die- sem Zeitpunkt kreisweit 99.575 Räume zur Verfügung, während 12.805 noch auf ihre Wiederherstellung warteten. Zugleich galten 10.033 der bewohnten Räume als überfüllt, während 1.755 Men- schen in als „unbewohnbar“ klassifizierten Zimmern lebten. 574 Ende 1947 belief sich die Zahl der weiterhin unbrauchbaren Räume noch immer auf 12.593. 575 Die ohnehin sehr zögerliche Instandsetzung von bereits vor- handenemWohnraum konnte angesichts der Zuzüge und des zwi- schen 1939 und 1945 gelten generellen Stopps imWohnungsbau natürlich nicht ausreichen, um der sich ausweitenden Wohnungs- not Herr zu werden. Das einzige, was hier dauerhaft Abhilfe schaf- fen konnte, waren preiswerte Neubauten in großer Zahl. Der Hand- lungsdruck wurde durch die hohe Zahl an Flüchtlingen und Vertriebenen zwar nochmals deutlich erhöht, stellte strukturell aber ein gesamtgesellschaftliches Phänomen dar. Daher kann das vielschichtigeThema „Wohnungsbau“ trotz aller ihm zustehenden Bedeutung hier nicht in Gänze ausgelotet werden. Im Folgenden werden daher lediglich jene Aspekte herausgegriffen, die nachweis- bar auch die Geschicke der Zugewanderten tangierten. Und das waren viele, denn der soziale Wohnungsbau und die Errichtung von Privathäusern wurden in den 1950iger und 1960iger Jahren zum vielleicht wichtigsten Element imProzess der Sesshaftwerdung und damit der endgültigen Integration von Flüchtlingen und Ver- triebenen in der westdeutschen Gesellschaft. Hinsichtlich der Bedeutung der zu Beginn der 1950er Jahre einsetzenden regen Bautätigkeit gilt es zudem zu berücksichtigen, dass sich so, wie sich die bestehende Wohnungsnot zuvor in den Orten am sichtbarsten geäußert hatte, sich nunmehr der Woh- nungsbau vor aller Augen abspielte. Damit wurde er von vielen als steingewordenes Kennzeichen des persönlichen wie des kommu- nalen und allgemeinen wirtschaftlichen Aufstiegs wahrgenommen, das neue Siedlungen oder gar – wie etwa imFall vonHochneukirch – neue Ortsteile entstehen ließ. Damit konnte sich dieses Phäno- men durch das mit ihm für viele eng verknüpfte Gefühl eines Neu- anfangs, aber auch aufgrund der nachhaltigen Veränderung über-

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