Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

329 VOR ORT: ANPASSUNG ODER INTEGRATION? Hochneukirch In Hochneukirchen lagen die Dinge in vielerlei Hinsicht anders, wobei aber auch hier die Ausgangsbedingungen nicht eben rosig waren. Man sah die Dinge aber immerhin klar. So brachte der Hochneukircher Gemeinderat in seiner Sitzung am 18. November 1948 seine einmütige Ansicht zum Ausdruck, „dass die Wohn- raumfrage inHochneukirch nur durch Neubauten und Siedeln ge- löst werden“ könne. 590 Im Frühjahr 1949 standen den knapp 5.900 Einwohner pro Person durchschnittlich lediglich 7,8 Quadratme- ter an Wohnfläche zur Verfügung, was auf die Überbelegung des vorhandenenWohnraums durch Zuweisung von Flüchtlingen und Vertriebenen zurückzuführen war. Zum Erhebungszeitpunkt waren in Hochneukirch noch 315 Haushaltungen mit 1.715 Per- sonen in Notunterkünften untergebracht - teilweise mit fünf Per- sonen in einem Raum. Faktisch, so wurde ermittelt, wären rund 1.000 dieser Zuwanderer wohnungslos, zu denen noch etwa 400 Evakuierte hinzuzurechnen wären, die sich weiterhin imGemein- degebiet aufhielten. Das wurde in einen aktuellen Bedarf von 100 Vierraum- oder 150 Dreiraumwohnungen allein für Hochneukirch umgerechnet. Eine andere Schätzung ging für den Amtsbezirk sogar davon aus, dass 470Wohnungen oder 235Häuser mit je zwei Wohnungen fehlen würden. 591 Um der massiven Probleme Herr zu werden, rief man imMärz 1949 auch in Hochneukirch einen Siedlungsausschuss ins Leben, der das „Siedlungsprogramm der Gemeinde“ in die Tat umsetzen sollte. Ihm gehörten neben Bürgermeister Beier zwei Vertreter der Landbesitzer aus Holz und Otzenrath, zwei Vertreter der berufs- ständischen landwirtschaftlichen Organisationen aus Hochneu- kirch und Otzenrath sowie vier Vertreter der „Landbewerber“ an, wobei Otto Kuhn aus Otzenrath zugleich als „Vertreter der Inte- ressenvereinigung der Ostvertriebenen“ fungierte. „Gemeindedi- rektor Bickler machte eingehende Ausführungen über den Erwerb und die Finanzierung des Siedlungsgeländes. Die Landwirte haben sich bereiterklärt, das benötigte Land zu angemessenem Preise zur Verfügung zu stellen und zwar auf freiwilliger Basis. Die Finanzie- rung des Landerwerbs erfolgt zumTeil durch Spenden der Industrie und des Handels, weitere diesbezügliche Verhandlungen mit an- deren Kreisen sollen noch geführt werden.“ Außerdem beschloss der Gemeinderat, Verhandlungen mit der „Rheinischen Heim- stätte“ wegen „endgültiger Übernahme der Siedlungsbauten“ auf- zunehmen. Daneben erklärte sich die Gemeinde bereit, sowohl jede Form von Landerwerb als auch den Bau von Eigenheimen in privater Regie „in jeder Weise zu fördern“. 592 Angesichts der unbedingtenNotwendigkeit schnellenHandelns zeigten Gemeinderat und Verwaltung Entschlossenheit. Noch im März 1949 wurde Gemeindedirektor Bickler ermächtigt, beimRe- gierungspräsidium einen Antrag auf Enteignung des verschiedenen ortsansässigen Personen oder Institutionen gehörenden Siedlungs- geländes zu stellen, „falls die gütlichen Verhandlungen mit den Ei- gentümern auf Ankauf zumZwecke gemeinnütziger Kleinsiedlun- gen scheitern“ sollten. Zugleich wurde der Ankauf von rund zehn Morgen Ackerland im Ortsbezirk Hochneukirch für Siedlungs- und Tauschzwecke beschlossen. 593 Das „katastrophaleWohnungselend“ und die „untragbaren Zu- stände“ erforderten schnelles Handeln. Als erstes Projekt wurde daher zunächst aber ein eher kleines Bauvorhaben in Angriff ge- nommen. Nachdem die Gemeindevertreter am 8. Juli 1949 noch- mals bekräftigt hatten, „dass der Neubau von Volkswohnungen grundsätzlich gefördert werden“ müsse, beschlossen sie als ersten entsprechenden Schritt den Bau eines Doppelhauses mit sechs Wohneinheiten auf einem gemeindeeigenen Grundstück an der Weidenstraße. 594 Als am 27. September des Jahres der Grundstein zu diesem Vorhaben gelegt wurde, mauerte man eine Flasche mit folgender Urkunde ein: „Bedingt durch die große Wohnungsnot entschloss sich die Gemeinde Hochneukirch in der Gemeinderatssitzung vom 8. Juli 1949 auf dem Baugrundstück der Gemeinde an der Weidenstraße einen Volkswoh- nungsbau, bestehend aus einem Doppelhaus, zu errichten. Die Wohnungsnot in der Gemeinde wurde hervorgerufen durch die Einweisung von 713 Flüchtlingen aus den Ostgebieten unseres Va- terlandes, welche nach Beendigung des zweitenWeltkrieges von 1939 - 1945 von Deutschland abgetrennt wurden. (…) Möge dieses Haus Zeuge sein von demWillen der Gemeinde, in einer schweren Zeit die Wohnungsnot der Bevölkerung zu lindern. (…) Dieses Bauvorhaben ist das erste der Gemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg. Es soll aber nicht das letzte sein.“ 595 Der Neubau in der Weidenstraße war zwar ein Anfang, aber keinesfalls mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. Das wussten die Verantwortlichen natürlich auch und blieben entsprechend aktiv, wobei sie mit Hilfe des seit dem 26. Juni 1949 wöchentlich erscheinenden „Hochneukircher Amtsblatts“ die Be- völkerung in dieser Frage stets auf dem Laufenden hielt und wohl auch zur Mitarbeit motivieren wollte. So wurden die Hochneu- kircher unter der Schlagzeile „Wie sieht es in der Gemeinde mit Wohnungen aus?“ am 24. Juli 1949 über die aktuelle Lage infor- miert. Das Problem, so hieß es einleitend, beschäftige wohl jeden Bewohner der Gemeinde, denn im Durchschnitt gäbe es ja „in je- dem 2. bis 3. Haushalt Wohnraumschwierigkeiten“. Weiter hieß es: „Bei den meisten sind folgende Gründe: Auf engstem Wohnraum zusammengepfercht ergeben sich Streitigkeiten zwischen den einzelnen Mietern bzw. mit dem Hausbesitzer und dem Mieter. Warum? Die Häuser in unserer Gemeinde sind zum größten Teil nicht zum Ver-

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