Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

335 VOR ORT: ANPASSUNG ODER INTEGRATION? kam es zu heftigen Protesten. „Die Bevölkerung von Jüchen und Elfgen ist sehr beunruhigt, erwartet eine Einhaltgebietung des rücksichtslosen Vorgehens der Braunkohlengruben aus demRaum Köln in den Raum des Kreises Grevenbroich und erhebt die For- derung auf Berücksichtigung der unantastbaren Rechte als Staats- bürger.“ Plötzlich entstanden in den betroffenenOrtschaften völlig neue Solidargemeinschaften. So gab der Elfgener Hauptlehrer Matthias Braß im Rahmen einer „Volksversammlung“, an der am 13. Mai 1954 auch Bürger aus Belmen, Garzweiler, Frimmersdorf, Laach, Gusttorf, Gindorf, Fürth, Priesterath und Anstel teilnahmen, seiner Freude darüber Ausdruck, „dass wir Elfgener nicht allein stehen“. „Immer stärker, vor allem in der Not, werden wir uns des Wortes dieser Gemeinschaft bewusst, und eins wissen wir: Die 900 Jahre alte Pfarre zum St. Georg Elfgen wird nicht ausgelöscht, was auch immer kommen möge.“ Nachdem dann 1955 zwischenzeitlich Hoffnungen zumindest auf eine längere Schonfrist geweckt worden waren, wurde Anfang 1957 der Beschluss bekannt, dass Elfgen und Belmen bis 1962 geräumt werden sollten. In der endgültigen Abstimmung im Jahr 1959 sprachen sich dann 79 Prozent der Be- wohner gegen einen Verbleib bei Jüchen und für ein Neu-Elfgen auf dem Grevenbroicher Stadtgebiet aus. 616 Auch Garzweiler war von den Abbauplänen betroffen, was um- gehend Rückwirkungen auf die lokale Baufreudigkeit zeitigte. Da- bei wäre die gerade hier sehr angebracht gewesen, denn Ende 1948 war das Dorf „zum Brennpunkt des Wohnungsbedarfs“ erklärt worden, ohne das Näheres hierzu und zumWohnungsbau imOrt überhaupt ermittelt werden konnte. 617 Die Folgen der drohenden Umsiedlungen lagen – wie auch in Otzenrath – auf der Hand und wurden im Jahr 1955 in der Chronik der evangelischen Volksschule prägnant zusammengefasst: „FreieWohnungen gibt es in Garzwei- ler nicht, obwohl bei mehr sozialem und christlichem Gefühl auf Seiten der Hausbesitzer mancher Flüchtlingsfamilie geholfen wer- den könnte, aus ihren menschenunwürdigen Unterkünften heraus- zukommen. Zudem ist der private und öffentliche Wohnungsbau, der überall in der Bundesrepublik gefördert und vorangetrieben wird, in Garzweiler erlahmt, weil das Dorf in demKohleabbauplan der Roddergrube einbezogen wurde. Sollte er verwirklicht werden, so verfällt das Dorf in einigen Jahren dem Untergang.“ Wie der aussehen würde, hatten die Garzweiler bereits zu diesemZeitpunkt tagtäglich vor Augen: „Im Osten – in etwa 5 km Entfernung – fressen die Bagger den Mutterboden und den darunter stehenden fetten Lehm und nähern sich Garzweiler täglich mehr. Ein großer Absetzer lässt eine Hochkippe immer höher wachsen, und in Gar- zweiler geht ein Grundstück nach dem anderen in die Hände der Grubenverwaltung über.“ 618 Unter diesen Umständen wurde im Dorf augenscheinlich nur eine Maßnahme öffentlich geförderten sozialenWohnungsbaus in Angriff genommen und umgesetzt, die unter der bezeichnenden Bezeichnung „Ostsektor“ in die Dorfannalen einging. Auch hie- rüber berichtete aus eigener Anschauung und recht kritisch der evangelische Schulchronist, der am 29. Januar 1955 eine dieser Wohnungen bezogen hatte: „Der ‚Ostsektor‘ ist ein mit staatlichen Mitteln zu Wohnzwecken für Vertriebene und Flüchtlinge ausgebautes Bauerngut (Besitzer Carl Mülfahrt) in der Königshovener Straße 31. Familien bewohnen diesen Komplex. Den meisten Wohnungen mangelt es an Licht, Luft und Sonne, da ihre Fenster nach der engen Bürgerstraße (Mausgasse) lie- gen, in die kein Sonnenstrahl fällt. Das südlich anschließende Schmitz’sche Gehöft verhindert dies. Übel sind die zahlreichen Kinder dieses Blocks dran. Sie wissen nicht, wo sie spielen sollen; kein Garten, nur ein Hof, von dem ein Drahtzaun den größten Teil als Wirt- schaftshof des Besitzers abtrennt. Die vomAuto- und Traktorverkehr belebte Königshovener Straße und ein schräg gegenüber liegendes Wiesengrundstück sind ihr letzter, teils lebensgefährlicher, teils ver- weigerter Spielplatz. Mit mancherlei Gefühlen begegnen die Altein- gesessenen den Bewohnern des „Ostsektors“, je nachWeltanschauung, Herzensbildung, Lebenserfahrung, Geldbeutel: mit Gleichgültigkeit, Geschäftsmentalität, Mitleid, Verärgerung, Verachtung, Spott. Hörte man doch in der Faschingszeit oft den umgewandelten Text des Fa- schingsliedes singen: ‚Am 30. Mai ziehen die Flüchtlinge fott, ich lache mich kapott‘. Andererseits begegnet aber der verarmte, mittellose Flüchtling, der sein Leben von vorn beginnen muss, auch manchem Herzen voll christlicher Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft auch von Seiten der Katholiken. ‚Wir sind doch Brüder.‘“ 619 „Gott schütze uns vor Hagel, Donnerschlag und Roddergrube“ - Karnevalswagen in Gubberath, 1958

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