Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
337 A m Ende der langen Reise durch Deutschlands Osten und Westen gegen Ende des ZweitenWeltkriegs, der ausführli- chen Darstellung der Lebensbedingungen amNiederrhein zwischen 1945 und 1950 sowie insbesondere der intensiven Analyse der Lage der hier eintreffenden Flüchtlinge und Vertriebenen gilt es nicht nur ein kurzes Resümee zu ziehen, sondern auch auf einige Aspekte aufmerksam zu machen, die trotz aller Ausführlichkeit hier eher am Rande behandelt wurden. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die erstenNachkriegsjahre auch imWesten ganz allgemein zunächst weitgehend von Mangel und Hunger geprägt waren. In dieser Notlage traf hier dann eine kontinuierlich wachsende Zahl von Flüchtlingen und Vertriebenen ein, die die ohnehin oft existenzbedrohenden Alltagsprobleme der Einheimischen noch erheblich verschärften. Die Situation der Neu- ankömmlinge gestaltete sich noch erheblich trostloser, wobei sich neben die materiellen Verluste der sich alsbald als dauerhaft erwei- sende Verlust der altenHeimat gesellte. Außerdemwaren die häufig traumatisierenden Fluchterfahrungen in aller Regel ohne jeglichen professionellen Beistand zu verarbeiten. Die in der Summe unge- heuren Belastungen der Geflohenen und Vertriebenen vermochten große Teile der einheimischen Bevölkerung damals allerdings nicht wahrzunehmen und als solche zu würdigen. Es gab zwar Hilfestel- lungen und manchmal auch Gesten der Solidarität, doch waren die eher selten und wenig nachhaltig. Es dominierte eindeutig die Ablehnung, die proportional zur steigenden Zahl an Zugezogenen noch wuchs und häufig sehr unschöne Formen annahm. In diesem angespannten Klima hatten die vor Ort politisch Ver- antwortlichen und die Kommunalverwaltungen ihre Arbeit zu leisten, die angesichts des Missverhältnisses von verfügbarer Ar- beitskraft und zu erledigenden Aufgaben kaum zu bewältigen war. Außerdemwaren die verantwortlich Handelnden zumeist ja eben- falls „Einheimische“, in den Dörfern bekannt und vernetzt und deshalb darauf bedacht, die Ortsbevölkerung mit unpopulären Entscheidungen nicht vor den Kopf zu stoßen. Außerdem gilt es beimUrteilen stets gebührend zu berücksichtigen, dass Aufnahme, Versorgung undUnterbringung von Flüchtlingen und Vertriebenen zwar eine zentrale Aufgabe der Kommunen darstellten, aber eben nur eine unter vielen war. Es wurde hier am Beispiel der Volks- schulen gezeigt, dass es immer wieder Entscheidungen zu treffen galt, die dann auch Verlierer zurückließen. Jede – unbedingt not- wendige - Investition in die desolaten Schulgebäude und deren völlig unzureichende Ausstattung bedeutete, das an anderen Stellen gespart werden musste, weil keine weiteren Finanzmittel aus den ohnehin sehr überschaubar ausgestatten kommunalen Haushalten zur Verfügung standen. Unter solchen Prämissen scheinen zumin- dest die Kommunalpolitik und die lokalen Verwaltungen bemüht gewesen sein, den Neuankömmlingen nach besten Kräften, aber eben immer nur im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten zu helfen. Das trifft sicherlich auch auf die Kirchengemeinden zu, de- ren caritativen Tätigkeiten auf diesem Gebiet in den verfügbaren Quellen allerdings kaum zu fassen sind. Außerdem kümmerten sie sich meist strikt nur um die eigene konfessionelle Klientel, so dass die evangelischen Flüchtlinge und Vertriebenen – nicht nur – in dieser Hinsicht am Niederrhein einen schwereren Stand hatten. Vieles musste hier – wie bereits in der Einleitung angedeutet - trotz aller Ausführlichkeit der Darstellung aufgrund der Quellen- lage vage oder gänzlich unbehandelt bleiben. Die schmerzlichen Lücken können die in diesemBand versammelten Lebensgeschich- ten unmittelbar Betroffener etwas verkleinern. Wenn sie aufgrund ihres damaligen jungen Alters sicherlich auch nicht alles erinnern und viele Dinge durch ihre Eltern von ihnen ferngehalten wurden, eröffnen sie doch einen anderen Blick auf die damalige Lage von Zugezogenen in den niederrheinischen Dörfern. Allzu Schlimmes wurde nicht selten wohl auch verdrängt oder wird aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten „Integration“, die in vielen Fällen wohl eher eine Assimilation war, lieber verschwiegen, um alte Wunden auch bei den „Ureinwohnern“ nicht wieder aufzureißen. Aber trotz aller Einschränkungen zeichnen solche biografische Skizzen ein durchaus reales Bild der damaligen Situation – aber eben immer durch die subjektive Brille und Erinnerung der Einzelnen bzw. des Einzelnen. Die quellenbasierte Darstellung bildet dabei dann den notwendigen Hintergrund, um die Schilderungen verstehen und richtig einordnen zu können. Generationen Zugleich wurde hier auf der Grundlage der Interviews – wenn auch nur in ersten Ansätzen – der Versuch unternommen, die Sichtweise auf das Geschehene, Erlebte und Gefühlte auf mehrere Personen einer Familie und/oder über mehrere Generationen vertriebener Familien auszudehnen. Dieser Ansatz folgt Erkenntnissen der For- schung, die davon ausgehen, dass das damalige Geschehen deutli- che Auswirkungen bis in die dritte Generation hinterlassen hat – „egal ob darüber geschwiegen oder gesprochen wurde“. „Die Ver- treibung hat im Leben der Familien alles verändert und prägte den Familienalltag, je nachdem, wie viel Bedeutung die Geschichten von der altenHeimat und der Flucht hatten. Außerhalb der Familie tauchte dieses Thema dagegen kaum auf.“ 621 Umso stärker aber mit wachsendem zeitlichen Abstand bei den unmittelbar Betroffenen selbst. Das Ausmaß der seelischen Schä- den, die Krieg und Vertreibung bei Kindern hinterlassen haben, so resümiert Andreas Kossert, werde erst jetzt, „da bei dieser Genera- tion die Erinnerung an die Kindheit wieder stärker hervortritt, deutlich“. Zudem betont auch er, dass derart schwere Traumatisie- Resümee und Ausblick
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