Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

338 RESÜMEE UND AUSBLICK rungen bis in die nächste Generation fortwirken würden. 622 Viele der imRahmen dieses Projekts befragten Zeitzeuginnen und Zeit- zeugen äußern sich – wie etwa Gertrud Zillikens – hinsichtlich der noch heute immer wieder deutlich empfundenen psychischen Belastungen sehr ähnlich. Durch die „Wende“ des Jahres 1989 erfuhr die aktive Ausei- nandersetzung mit demThema „Flucht und Vertreibung“ in vielen Familien eine Verstärkung und wurde oftmals zu einemmanifesten Bestandteil der Urlaubsplanung. Zwar war bereits vorher ein An- stieg der Reisen von Betroffenen in ihre früheren Heimatorte zu verzeichnen, doch bewirkte die Öffnung der Grenzen eine deutliche Verstärkung dieses Trends. Waren bis dahin fast ausschließlich Busse mit Angehörigen der „Erlebnisgeneration“ gen Osten auf- gebrochen, machten sich nach 1989 ganze Familien auf den Weg. Söhne, Töchter und Enkel wollten die Geburtsorte der Eltern und Großeltern und damit die Wurzeln ihrer Familien kennenlernen. Das trifft auf fast alle hier näher Porträtierten zu, wobei die Familien Beulen und Zillikens beispielhaft genannt sein sollen. „Auch das ist ein Teil der Veränderung des kollektiven Erinnerns: Mit den Familiengeschichten kehren die Orte des verlorenen Ostens in das Gedächtnis zurück.“ 623 Einen häufig schweren Stand hatte die zweite Generation 624 , also die – zumeist bereits imWesten geborenen –Kinder der Geflohenen und Vertriebenen, sahen sie sich doch mit widersprüchlichen Auf- gaben konfrontiert: Einerseits, so die Erkenntnisse der aktuellen Forschung, hätten sie sich „enorm anpassen und für die Eltern den Beweis der eigenen Tüchtigkeit undÜberlegenheit erbringen“ müs- sen. Andererseits mussten sie für die Eltern aber gerade auch die verlorene Heimat repräsentieren, was bedeutete, dass eigentlich keine Anpassung erfolgen durfte. So war es durchaus üblich, dass Vertriebenenkinder in der Schule rheinische, zu Hause aber etwa schlesische oder ostpreußische Mundart sprachen, weil ihre Eltern es als kränkend empfanden, das eigene Kind in der ungeliebten neuen „Sprache“ reden zu hören. Zugleich musste sich das Kind in seiner jeweiligenUmgebung durchsetzen und Anerkennung finden. Astrid von Friesen führt in diesem Zusammenhang den Begriff der „gespaltenen Kindheit“ ein. „Es war ein Leben zwischen früher und heute, zwischen der Trauer zu Hause und der Welt draußen, die nichts wissenwollte von dieser Trauer, zwischen extremer Anpassung und einsamer Ausgegrenztheit.“ 625 Das alles forderte den Flücht- lingskindern viel ab, und viele von ihnen, so der Befund vonAndreas Kossert, „scheinen sich in intellektuelle Hochleistung geflüchtet zu haben.“ 626 – Es lohnt auch in Jüchen die Überlegung, warum ent- scheidende Positionen in der Stadtspitze mit Angehörigen der zwei- ten Flüchtlingsgeneration besetzt sind. Es handelt sich bei dem allen aber beileibe um kein isoliertes deutsches Phänomen. Es stelle sich plötzlich heraus, so analysiert Helga Hirsch, „dass die Interessen der Kinder und Enkel von Ver- triebenen auf frappierende Weise mit den Interessen gleichaltriger Polen, Tschechen, Ungarn oder Juden übereinstimmen: Die einen wie die anderen forschen nach Tiefenschichten von Orten und Landschaften und Geschichten, die ihnen aus unterschiedlichen Gründen vorenthalten worden sind. Die einen wie die anderen suchen die weißen Flecken in den Geschichten ihrer Familien und Völker auszufüllen. Diese Nachkriegskinder suchen nach unter- gegangenen Vergangenheiten, in denen die Geschichte ihren ganzen Reichtum und ihre ganze Vielfalt offenbart und alle Kulturgüter für alle zugänglich sind. Insofern enthält der augenblickliche Prozess im Kern nichts Beängstigendes, aber viel Befreiendes, Aufkläreri- sches, Heilendes.“ 627 – Angesichts der neuerlich immensen welt- weiten Zahlen an Flüchtlingen könnte eine solche Suche durchaus zu einem Signum der folgenden Jahrzehnte werden. Integration? Abschließend soll nochmals nach dem Erfolg und dem Grad der Integration der Vertriebenen in die Bundesrepublik gefragt werden. Die lange Zeit unkritisch als großer Erfolg gefeierte Eingliederung wird heute weitaus differenzierter und damit auch sehr viel kriti- scher beurteilt. Die materielle Integration „der Heimatlosen im Wirtschaftswunderland“, so weiß manmittlerweile, ist letztlich nur gelungen, weil die Vertriebenen nicht in der Rolle der Betroffenen verharrt, sondern tatkräftig Hand anlegt und „durch ihre Leis- tungs- und Anpassungsbereitschaft, ihre Arbeits- und bald auch ihre Kaufkraft das Wirtschaftswunder ganz entscheidend“ mitge- tragen haben. In völligem Kontrast dazu dominiert insbesondere in ländlichen Gebieten aber noch heute häufig die Geschichte der Einheimischen, die, „überschwemmt vom Flüchtlingsstrom, an- geblich ganz allein durch gewaltige Leistungen die Heimatlosen“ integriert hätten. Solche Einseitigkeiten helfen niemandem weiter. Stattdessen sollte die Aufnahme und Ansiedlung der Zugezogenen als „ein langer, bis heute nicht abgeschlossener Prozess voller Spannungen und Rückschläge“ begriffen werden, der alles andere als eine un- gebrochene Erfolgsgeschichte darstellt. An alle Seiten wurden er- hebliche Anforderungen gestellt, denn die Fremden brachen ja im- merhin in die bis dahin weitgehend homogenen und auf eine solche Invasion völlig unvorbereiteten Gesellschaften auf demLand ein. 628 Daher war ihre Integration hier dann zunächst auch weitaus häu- figer eine erzwungene als eine gelungene, die oftmals im Schweigen ihren stummen und für die Betroffenen wohl beklemmenden Aus- druck fand. Man schwieg, um nicht als „Fremder“ erkannt zu wer- den und in Distanz zu den Einheimischen zu geraten, und viele schwiegen auch deshalb, weil sie nicht mehr an die Vergangenheit denken wollten. 629 Mehr und mehr wirkten die Neuankömmlinge, die zumeist ja aus anderen sozialen, kulturellen und konfessionellen Zusammen- hängen stammten, innerhalb der festgefügten ländlichen Gesell- schaften dann aber wie ein „Ferment“ mit entsprechenden Folgen. „Eingeschliffene Traditionen und kulturelle Konventionen“ wurden

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