Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

35 DIE RAHMENBEDINGUNGEN: DIE LAGE IM OSTEN Die oftmals traumatisierenden Erlebnisse, die die Fliehenden und Vertriebenen durchleiden mussten, entziehen sich hingegen weitgehend einer statistischen Erfassung. Dennoch wird versucht, auch in dieser Hinsicht Zahlen zu ermitteln. So schätzenHistoriker die Zahl der Frauen, die damals vergewaltigt worden sind, auf etwa 1,4 Millionen. Viele von ihnen nahmen sich danach aus Ekel und Entsetzen das Leben. Wie tief sich das Geschehen nicht nur in die Psyche der betroffenen Frauen, sondern auch in jene der Kinder einbrannte, die diese Taten häufig mit ansehen mussten, zeigen die Aussagen von Zeugen, die noch Monate später beobachteten, dass heil imWesten angekommene Kinder in den Flüchtlingslagern „Frau, komm!“ spielten. 72 Es waren aber bei Weitem nicht die Erlebnisse und Erfahrungen vor und während der Flucht und des Vertreibungsprozesses allein, die die Betroffenen oftmals dauerhaft traumatisierten und tiefsit- zende Angst, Schmerzen und Trauer hinterließen. Andreas Kossert bringt die problematische Gesamtkonstellation mit Blick auf die gesamte deutsche Nachkriegsgesellschaft so auf den Punkt: „Im Grunde waren nach dem Krieg alle Deutschen auf der Flucht vor dem, was gestern noch gegolten und die meisten begeistert hatte. Sie waren Deklassierte, moralisch geächtet von den Siegern. Indem sie sich auf Arbeit und Leistung konzentrierten, dachten sie weniger an die Vergangenheit und mehr an die Zukunft. Gefühlsmangel und Verdrängung waren Begleiterscheinungen des Wiederaufbaus, Schmerz und Trauer störten in der heilen Welt des Wirtschafts- wunders.“ 73 Während sich die Bevölkerung imWesten und auch in der sow- jetisch besetzten Zone nach einer schweren Phase des Übergangs und trotz aller Verluste wieder in der ihr angestammten Umgebung mit vertrautenMenschen einrichten konnte, sahen sich Geflüchtete und Vertriebene – und unter ihnen ganz besonders Alte, Frauen und Kinder – zumeist mit weit darüber hinausgehenden Anfor- derungen konfrontiert. „Sie haben die damit verbundenen sozialen und kulturellen Spannungen aushalten müssen und besonders zu spüren bekommen, was Fremdsein bedeutet. Die Welt, in der sie sich auskannten, gab es nicht mehr, von dort hatte man sie vertrie- ben. Sie waren ganz auf sich allein gestellt, abgeschnitten von den gewachsenen familiären und nachbarschaftlichen Verbindungen.“ Sie waren oft für Jahre abhängig vom Wohlwollen und Mitleid fremder Menschen und mussten dabei alles das vollkommen in den Hintergrund treten lassen, was sie verloren und bereits vor der Ankunft imWesten durchlitten hatten. Wie stark das alles die Sicht auf das Leben beeinflussen und die Psyche deformieren konnte, veranschaulicht schlaglichtartig die Aussage einer Zeit- zeugin über ihr Dasein als Flüchtlingskind imNachkriegsdeutsch- land: „Als ich ein ganz kleines Mädchen war, war ich überzeugt, dass man bereits als Flüchtling zur Welt kommt.“ Die 14Millionen, die geflüchtet oder vertrieben worden waren, kamen in großenMassen und waren doch allesamt Individuen mit jeweils persönlichem Schicksal, über das öffentlich jedoch kaum gesprochen wurde. Es wurden Anpassung und Integration erwartet, so dass eine Verarbeitung des Erlebten nicht stattfand. Wenn es über die Vergangenheit in der alten Heimat und die dramatischen Szenen während Flucht und Vertreibung einen Austausch gab, dann im engen Familienzirkel. Die Alten litten dabei unter dem unwiederbringlichen Verlust von Heimat und Wurzeln. „Mein Opa saß auf den Koffern, bis er gestorben ist“, fasste Günter Grass die hieraus resultierenden Konsequenzen und psychischen Belas- tungen in ein treffendes Bild. 74 Wir werden ähnlichen Aussagen auch in verschiedenen der hier niedergelegten Lebensgeschichten wiederbegegnen. Und jene, denen die dramatischen Erfahrungen von Heimat- verlust und Flucht erspart geblieben waren, weil sie als „Zweite Generation“ erst imWesten und seinem beginnendenWirtschafts- wunder geboren wurden, verstanden oft nicht, was um sie herum in ihren Familien geschah und warum alles so sehr anders war als etwa bei Freunden und Freundinnen. Petra Reski, 1958 im Ruhr- gebiet geboren, verarbeitete später die Erfahrung der Flucht, die sie gar nicht selbst gemacht, die aber ihre Kindheit geprägt hatte, literarisch: Ihre Freundin Ingrid habe über einen Dachboden ver- fügt, „auf dem Möbel von drei Generationen standen“. Ein solch intaktes und historisch vollständiges Umfeld konnte ihre eigene Familie ihr nicht bieten. Sie habe lediglich „die Geschichte von der Flucht“ gehabt. „Die Flucht, die Flucht, immer die Flucht. Die Geschichte von der Flucht wurde jedes Mal erzählt, wenn zwei Erwachsene zusammenkamen. Sie begann mit ‚Als der Russe kam‘ und endete damit, dass geweint wurde.“ 75 Die verschiedenen Problemlagen, die auf das Leben von Geflo- henen und Vertriebenen und das ihrer Kinder einwirken konnten und können, gilt es an anderer Stelle ausführlicher zu diskutieren. Zuvor werden wird solchen und ähnlich gelagerten Fällen und in- dividuellen Belastungen hier an verschiedenen Stellen immer wie- der begegnen. Und dort, wo solche nicht dezidiert angesprochen werden, sollte man sie als stets präsenten Kontext immer mitden- ken. Es geht dabei keinesfalls um einen neuen Opferdiskurs, son- dern darum, dass vieleMenschen etwas er- und durchlebenmussten, was sie an Leib und Seele verletzte und das ihr weiteres Leben oft maßgeblich mitbestimmte.

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