Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

36 Ostpreußen war aufgrund seiner exponierten Lage im Osten der erste Teil des Reichsgebiets, der von der Roten Armee bedroht wurde. 76 Weil es aber nach dem Willen des NS-Regimes als „Bollwerk gegen den Bolschewismus“ dienen sollte, wurde der Bevölkerung verboten, über Rückzug und Flucht überhaupt nur öffentlich nachzudenken. Als dann Anfang 1945 eine Großoffensive der Roten Armee begann, die ab dem 13. Januar 1945 mit Urgewalt über die östlichste deutsche Pro- vinz hereinbrach, war es zu spät. Weil spätestens seit dem 22. Januar der gesamte Zugverkehr Richtung Westen unterbrochen war, wurde der pferdebespannte Treck oder der Fußmarsch durch Kälte und Schnee zum Charakteristikum der ostpreußischen Fluchtbewegung schlechthin. Viele dieser Trecks machten sich nur einen Tag oder gar nur wenige Stunden vor dem Anrücken der sowjetischen Truppen auf den Weg, so dass die gesamte Fluchtbewegung einen weitgehend pa- nischen und regellosen Charakter trug. Als Ostpreußen Ende Januar dann vollends eingekesselt war, floh die Zivilbevölkerung in letzter Minute durch einen der wenigen Korridore, die von der Wehrmacht noch frei gehalten wurden: den Heiligenbeiler Kessel, die „Festung“ Königsberg und das Samland. „Wir zogen“, so erinnerte sich später eine Frau aus Sensburg, „ächzend die Kinderwa- gen durch den tiefen Schnee in hoffnungsloser Verzweiflung und dach- ten nichts anderes, als dass dieser Sonntag, der 28. Januar 1945, unser aller Sterbetag werden würde.“ Das vereiste Frische Haff war dabei für die meisten der letzte verbliebene Weg Richtung Westen, weshalb sich etwa 500.000 Menschen in diese Richtung wandten, um über das Eis zu entkommen. Sie wollten die acht Kilometern entfernte Fri- sche Nehrung erreichen, eine schmale Landzunge an der Ostsee, an der sich als Ort der letzten Fluchthoffnung der Hafen von Pillau befand. Viele der Trecks strandeten auf diesem hochriskanten Weg durch 25 Zentimeter hoch stehendes Eiswasser unter fürchterlichen Bedingun- gen und schlimmsten Folgen für die Betroffenen. Zahlreiche Fuhrwerke brachen in das brüchige Eis ein; die Menschen ertranken und erfroren in großer Zahl. Gertrud Zillikens schildert hier ihre Erlebnisse während der dramatischen Flucht über das Eis. Wer Pillau mit viel Glück erreichte, war keineswegs in Sicherheit, son- dern musste versuchen, von dort per Schiff zumindest bis Danzig zu gelangen. Weil deutsche Truppen den Pillauer Hafen bis Mitte April 1945 halten konnten, gelangten rund 450.000 Flüchtlinge auf dem Seeweg nach Westdeutschland oder nach Dänemark. Ostpreußen wurde durch die Fluchtwelle nahezu völlig entvölkert. Seine Bevölkerungszahl sank von 2,65 Millionen auf 800.000, während andere massiv von der Fluchtbewegung erfasste Gebiete immerhin die Hälfte der Bewohner behielten. Nach anderen Schätzungen verließen sogar mehr als zwei Millionen Menschen die Provinz, deren zurückgebliebene Bewohner sich danach auf Gedeih und Verderb den Siegern ausgelie- fert sahen. Die Gesamtbilanz war erschreckend: Von den 2,4 Millionen Einwohnern Ostpreußens starben 511.000, darunter 311.000 Zivilisten auf der Flucht oder bald danach durch Hunger und Kälte, Kampf oder Verschleppung. Das war der höchste prozentuale Anteil an Opfern während der ge- samten Periode von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Welt- krieg. Ostpreussen Flüchtlingstreck ostpreußischer Bauern, die versuchen, über das Frische Haff dem russischen Einmarsch auszuweichen und über die Kurische Nehrung unbesetz- tes Gebiet zu erreichen, 1945

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