Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

40 AUS DEM LEBEN VON GERTRUD ZILLIKENS Die vier Riedigers machen sich – begleitet von der kranken Oma, einer hochschwangeren Tante und einer weiteren Verwandten mit ihren zwei Kindern – als Mitglieder eines kleinen Trecks auf denWeg. Zunächst gelangt man auf ein größeres Gut in der Nähe von Braunsberg, woman eine Nacht imSchweinestall übernachten kann. Es folgt eine weitere Nacht in einer Scheune imHeu und ei- nige weitere in einer zuvor von Soldaten bewohnten Baracke. Da- bei rückt die Front immer näher und Braunsberg ist inzwischen von der Roten Armee eingeschlossen. Eines Morgens heißt es dann: „Alles fertig machen. Sie gehen jetzt Richtung Haff.“ „‚Wie, Richtung Haff‘, sagte da meine Mutter. ‚Was sollen wir denn da?‘“, erinnert sich Gertrud Zillikens noch gut an die dra- matische Situation. Den Betroffenen wird erläutert, dass sie über das Eis im Haff bis auf die schmale Nehrung gehen sollen. So bewegt sich die Gruppe bei Temperaturen um minus 25 Grad über das Eis, dessen Zustand aber alles andere als ver- trauenserweckend ist. „Das war schon was brüchig, und das Wasser stand schon bis zu den Knöcheln. Durch all die Trecks, die schon gefahren sind, war das Eis schon ein bisschen mürbe.“ „Da mussten wir ja durch“, umschreibt Gertrud Zillikens die damalige Alternativlosigkeit. Für ihre Familie kommt die Krank- heit von Schwester Hedwig noch erschwerend hinzu. Weil es ihr in ihrem geschwächten Zustand nicht möglich ist, das Haff zu Fuß zu überqueren, gelingt es Katharina Riediger, ihre Toch- ter auf einem der Wagen im Treck unterzubringen. Dann beginnt der Weg mit völlig ungewissem Ausgang. „Als wir da auf dem Eis waren, das war das Schlimmste im Leben, was ich da erlebt habe.“ Gertrud passiert Trecks, deren zu schwere Wagen zuvor im Eis eingebrochen waren. „Da ragten die Hände aus dem Wasser, aber die waren schon gefroren.“ Solche Vorfälle wirken ebenso beunruhigend wie die Tatsa- che, dass der oft stockende Treck sich spätestens nach jeweils fünf Minuten ein Stück weiter bewegen muss, damit der durch Wagen und Menschen ausgeübte Druck auf einzelne Stellen des Eises nicht zu groß wird. Katharina Riediger beschließt an- gesichts der Gefahren, Hedwig von demWagen herunterzuholen. „‚Das Eis, das knackt immer so komisch‘, sagte meine Mutter“, erinnert sich Getrud Zillikens bis heute. Danach stellen sich die vier etwas abseits des Wagens und beschließen, allein ein Stück zu Fuß zu gehen. „Wir waren vielleicht ein paar Meter von dem „Alles fertig machen. Sie gehen jetzt Richtung Haff.“ – Flucht übers Haff Flüchtlingstreck im Raum von Braunsberg (Ostpreußen), 1945

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