Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

41 AUS DEM LEBEN VON GERTRUD ZILLIKENS Treck weg, auf einmal krachte es und die Pferde fingen an zu reißen.“ Dann geht alles ganz schnell: „Innerhalb von Minuten war der Treck weg“ – mitsamt vier Kindern, die mit ihrer Mutter auf dem Wagen sitzen. „Alle sind die untergegangen. Die Frau, die hat die Kinder gehalten und geschrien.“ Der polnische Wa- genführer versucht alles, um Menschen, Pferde und Wagen zu retten, aber vergeblich. Er geht mit unter. Dieses Bild, so erzählt Gertrud Zillikens, habe sie zeitlebens nicht vergessen können. „Das habe ich jeden Abend im Kopf, wenn ich im Bett liege. Dann geht mit das alles durch den Kopf, nach all den Jahren. Ich kann das nicht vergessen. Das ist unmöglich!“ Die Haff-Überquerung hält für Gertrud aber noch weitere Schrecken bereit. In der Dunkelheit ist plötzlich ihre Mutter ver- schwunden. „Die Mama ist weg!“ Gertrud lässt ihre beiden Schwestern zurück, „und dann bin ich marschiert“. In jedenWagen hinein ruft sie „Mama, bist Du da?“ Zu ihrem Glück wird sie von einer Militärstreife aufgehalten, die ihr sagt, dass sie in die falsche Richtung, nämlich zurück zum Festland laufe. „Ja, ich suche meine Mama.“ Die Streife hilft der verängstigten und überforderten Elf- jährigen und findet Katharina Riediger tatsächlich. „Die wollte einfach nicht mehr, glaube ich“, erzählt Gertrud Zillikens noch heute recht fassungslos. Statt sich über die erfolgreiche Zusam- menführung zu freuen, macht sie ihrer Tochter sogar Vorwürfe: „Musst Du mir denn immer nachlaufen?“ Immerhin kann die nerv- lich zerrüttete und zu diesem Zeitpunkt wohl lebensmüde 35- Jährige zur Rückkehr zu ihren Kindern bewogen werden, wobei wieder Gertrud das Geschehen in die Hand nehmen muss. Aber auch der Rückweg gestaltet sich in der Dunkelheit nicht einfach. „Da habe ich immer wieder gerufen: ‚Hedwig, Angelika! Seid ihr hier?‘. Und dann habe ich sie doch gefunden, und wir sind vom Eis runter bis zur Nehrung.“ Es ist offenbar Schicksal und Aufgabe der kleinen Gertrud zugleich, in sehr jungen Jahren innerhalb der Familie übermäßig viel Verantwortung übernehmen zu müssen. „Ich musste immer laufen“, erinnert sie sich. „Ich war immer diejenige, die alles be- sorgen musste.“ GroßeWahlmöglichkeiten werden ihr dabei nicht gelassen. „Ich musste. Meine Mutter sagte: ‚Du darfst nicht ver- sagen. Du musst!‘ Das habe ich mir so zu Herzen genommen.“ Gertrud nimmt ihre Rolle an und füllt sie aus, so gut es ihr eben möglich ist. „Ich habe es eigentlich auch immer gern gemacht. Ich habe sie beschützt, kann man sagen.“ Dennoch ist sie damals – aber auch noch heute im hohen Alter – über das Verhalten der Mutter zunehmend irritiert. Es ist für die Kinder nicht verständlich oder gar nachvollziehbar, wozu das Schweigen der Mutter erheblich beiträgt. „Die hat mit uns über gar nichts gesprochen. Das war ja das Schlimme.“ Die Ver- weigerung von Kommunikation lässt schlimme Ängste entstehen: „Ich habe dann immer gesagt: ‚Mama, willst Du uns denn los- werden? Weil Du uns immer wieder im Stich lässt. Ich passe doch immer wieder auf. Ich hole Dich zurück, ich hole meine Geschwister zurück.‘ Da sagt sie bloß: ‚Du musst nicht immer al- les so genau sehen.‘“ Schwester Hedwig ist schwer asthmakrank und zumeist bett- lägerig. „Die lag meistens wie zum Sterben da“, erinnert sich Gertrud Zillikens an den äußerst bemitleidenswerten Zustand ihrer älteren Schwester. Um die Flucht der restlichen Familien- mitglieder nicht zu gefährden, beabsichtigt ein Verantwortlicher in Braunsberg, die zu diesem Zeitpunkt 15-Jährige durch eine Injektion „einzuschläfern“. Der zuständige Wehrmachtsarzt – im Zivilleben auch Hausarzt der Riedigers - ist schon gerufen, um die Spritze zu setzen, im Schlafzimmer sind bereits Kerzen angezündet und Gebete für Hedwig gesprochen, als sich Mutter Katharina doch noch energisch dazwischen stellt. „Das lasse ich einfach nicht zu! Die kriege ich durch.“ „Meine Schwester darf nicht sterben!“ – noch heute ist Gertrud Zillikens froh über diesen Einsatz ihrer Mutter. Auf der Flucht über das Haff wird Hedwig allerdings zu einer schweren Last, vor allem, nachdem der Wagen, auf dem sie zuvor ein Stück mitgefahren war, im eisigen Wasser versunken ist. Die elfjährige Schwester Gertrud trägt sie danach die meiste Zeit durch das knöcheltiefe eiskalte Wasser und anschließend über die Nehrung. „Ich habe sie die ganze Nehrung lang auf meinem Rücken getragen, und ich war doch auch noch so klein.“ Noch heute scheint es Gertrud Zillikens unverständlich, wie sie diese körperliche Anstrengung damals bewältigen konnte. In jenen Momenten, in denen die Kräfte Gertrud völlig zu verlassen drohen, kommt ein einfacher Stock zum Einsatz, den Mutter Katharina auf dem Eis gefunden hat. Jede von ihnen nimmt ein Stockende in die Hand, so dass sich die kranke Hed- wig darauf setzen kann. Auf diese Weise schafft man im Laufe eines Tages und einer Nacht den ganzen Weg bis nach Neu- Tief bei Pillau, wo man im Morgengrauen eintrifft. „Und dann haben wir da gestanden und gewartet, dass wir rübergeschifft wurden nach Pillau.“ Gleichzeitig muss sich der Treck hier vor Tieffliegern in Si- cherheit bringen, die ihn beschießen. „Die kamen so tief, da konnten wir ja reingucken ins Flugzeug“ erinnert sich Gertrud Zillikens heute an die stetige Bedrohung aus der Luft. Ein Tipp von Soldaten, die Nähe der Bäume auf der Nehrung zu suchen, bietet zumindest etwas Schutz. „Das lasse ich einfach nicht zu!“ – Die kranke Schwester

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