Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
44 AUS DEM LEBEN VON GERTRUD ZILLIKENS Von Pillau aus geht die Überfahrt nach Dänemark, wobei „Über- fahrt“ in diesem Zusammenhang wohl ein unpassender Begriff ist. Es handelt sich nicht etwa um ein Passagierschiff, sondern um einen alten Frachter, in dessen Laderaum nach Angaben des Kapitäns rund 650 Menschen auf dem nackten Boden lie- gen. Der Einstieg erfolgt über eine einfache lange Leiter. „Ja, das können Sie sich ja denken: Ein Geschreie, ein Gebrülle, ein Weinen und und und.“ Ein mitfliehender evangelischer Pfarrer stimmt zur Beruhigung Kirchenlieder an. Nach zunächst relativ ruhiger Fahrt ändert sich die Lage schlagartig. „Auf einmal knallte das.“ Der Kapitän erscheint am Rand der Luke und teilt über Sprachrohr mit: „Das Schiff ist getroffen. Ich kann nicht garantieren, ob wir es schaffen bis nach Dänemark.“ Daraufhin zieht er kurzerhand die Leiter hoch und verschließt die Luke und damit den einzigen Ausgang der nun im Bauch des Schiffes eingeschlossenen Passagiere. „Ja, was nun? Ertrinken wir jetzt hier?“ Zugleich kann man hören, wie die Schiffsbesatzung ohne Unterlass pumpt, um das eindringende Wasser wieder nach außen zu befördern. Zum Glück schafft das Schiff durch diesen Einsatz tatsächlich die Strecke bis Kopenhagen. - Bei seiner nächsten Überfahrt wird der Frachter dann jedoch mitsamt seiner Passagiere durch einen Torpedotreffer versenkt. Ein Erlebnis auf dem Schiff kann Gertrud Zillikens bis heute nicht vergessen. Bevor es von dem Torpedo getroffen wird, verlässt sie einige Male den Schiffsbauch, um mit einem kleinen Eimerchen, das sie dort gefunden hat, an Deck frisches Wasser zu holen. Dabei sieht sie dort in einer Ecke ein „altes Mütter- chen“ sitzen. „Und da habe ich dann mal geguckt. Aber das Mütterchen konnte nicht mehr sprechen. Ich nehme an, die war erfroren. Und die war so voller Läuse, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Das krabbelte überall. Da habe ich gesagt: ‚Oma, merkst Du gar nichts?‘ Da hat die keine Antwort gegeben, und das hat mich schon geschockt.“ Beängstigender als der Tod der alten Frau ist für die knapp Zwölfjährige in diesem Au- genblick aber wohl der Befall mit Läusen. „Dann hast Du si- cherlich auch Läuse. Du warst doch immer sauber. Aber es ist gut gegangen.“ Bei der Ankunft in Kopenhagen ist Dänemark noch durch die Wehrmacht besetzt. Die Ankömmlinge werden in einem schö- nen Hotel in Frederiksberg einquartiert. Während mehrere Hun- dert Menschen in großen Säle untergebracht werden, haben die Riedigers das Glück, dass ihnen ein eigenes Zimmer in der ersten Etage zugewiesen wird. Die Versorgung lässt hingegen sehr zu wünschen übrig. In den ersten zwei Wochen können sie sich noch frei im Ort bewegen. Als sie bemerken, dass die Dänen großes Interesse an Goldschmuck haben, bedrängen die immer hungrigen Schwestern ihre Mutter, doch den Ehering gegen Lebensmittel einzutauschen. „Wir haben Hunger.“ Nach langem Zögern willigt Katharina Riediger ein. „Da konnten wir uns mal ein Brot kaufen und ein Stückchen Wurst, das war alles.“ Ein solch sprichwörtlicher Tropfen auf den heißen Stein hält natürlich nicht lange vor. Ein Soldat, so erinnert sich Gertrud Zillikens, habe den Mädchen deshalb geraten, in ein nahelie- gendes Wäldchen zu gehen. „Da liegt so viel Essenszeug von uns Soldaten.“ Tatsächlich findet Gertrud dort mit ihrer Mutter – beide mittlerweile durch Krankheit und Entbehrungen stark entkräftet – erhebliche Mengen an Konserven und Brot, die sie unter großen körperlichen Anstrengungen ins Hotel tragen. Nun können sie sich eine gewisse Zeit durchschlagen, geben aber auch viel an andere Flüchtlinge ab. Daher sind die Le- bensmittel „ruck zuck“ aufgebraucht. „Und dann war Schluss!“ Anfang Mai wundern sich die Flüchtlinge über eine ungewohnte Geräuschkulisse. „Wir haben gedacht: ‚Was schießen die denn alle hier so?’, erinnert sich Gertrud Zillikens an den 4./5. Mai 1945, den Tag der Kapitulation der deutschen Truppen in Dänemark. Ein Blick aus dem Fenster zeigt, dass dänische Polizisten und Soldaten in die Luft schie- ßen. „Wir haben uns erschrocken, denn wir wussten ja gar nicht, dass der Krieg zu Ende war.“ Nun ändert sich für die Flüchtlinge alles. Mit Ekel erinnert sich Gertrud Zillikens noch heute an die erste Friedensmahlzeit in Dänemark. Man habe von den Dänen oder dem Roten Kreuz eine Art Graupensuppe erhalten, „da schwammen so dicke Ma- den drauf“. „Das sollten wir dann essen. ‚Ne‘, sagt meine Mutter. ‚Ich fall zwar vor Hunger um, aber das esse ich nicht.‘“ Die Schuld für derart ungenießbares Essen liegt in diesem Fall aber nicht etwa auf Seiten der Dänen. Zuvor im Hotel angelieferte Lebensmittel – Brot, Butter, Wurst – sind von zwei Flüchtlingen, beide „als schwere Nazis bekannt“, unter der Hand zum per- sönlichen Vorteil verkauft worden. Dafür müssen alle anderen nun hungern. Beide werden daraufhin an Ort und Stelle ver- haftet. „Und dann kriegten wir eine anständige Kost.“ Immer dann, wenn der Hunger doch wieder überhandnimmt, ist es Gertrud, die Eigeninitiative entwickelt, um der Familie zu helfen. Sie erinnert sich rückblickend, sie habe im Hotel Kar- toffelschalen aus dem Mülleimer geholt und verspeist. Nicht „Ja, was nun? Ertrinken wir jetzt hier?“ – Überfahrt nach Dänemark „Wir wussten ja gar nicht, dass der Krieg zu Ende war.“ – Ankunft in Dänemark
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