Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
45 AUS DEM LEBEN VON GERTRUD ZILLIKENS nur das. „Was der Bäcker in der Nähe den Hühnern an Krümeln und Resten ins Gehege geworfen hat, habe ich mir im Morgen- grauen, wenn ich über den Zaun geklettert war, geholt und ge- gessen.“ Es habe aber auch angenehmere Ereignisse gegeben. „Am Meeresufer haben wir Kinder Fallschirme gefunden. Aus der Fallschirmseide wurden Kostüme gefertigt und dann kleine Theaterstücke aufgeführt. Da staunten die Dänen und haben Beifall geklatscht.“ Mit der Kapitulation verändern sich die Aufenthaltsbedingungen der Flüchtlinge. „Die waren gar nicht nett zu uns“, beschreibt Gertrud Zillikens das Verhalten der dänischen Bevölkerung. Zunächst werden die unbeliebten Deutschen im Hotel interniert. „Dort durften wir noch bleiben, aber keinen Schritt daraus ma- chen.“ Die Insassen werden von vorbeikommenden Dänen be- spuckt und als „Tysker svine“ (deutsche Schweine) be- schimpft. 78 „Das hat wehgetan, aber na und? Das nahm man alles mit in Kauf. Du bist erstmal gut untergebracht, du kannst ruhig schlafen, du bekommst dein Essen.“ – So beginnt für Fa- milie Riediger eine fast zweijährige Internierung in Dänemark. Allerdings ändern sich die Bedingungen sehr bald grundle- gend. Aus dem Hotel in Frederiksberg werden die Flüchtlinge zunächst in ein Lager in Melby im Norden von Seeland, dann nach Dragør in dessen Südosten verlegt. 79 Bei beiden Unter- künften handelt es sich um die Baracken ehemaliger Wehr- machtsunterkünfte, umgeben von drei Meter hohen Stachel- drahtzäunen, die von dänischen Soldaten bewacht werden. „Die Unterkunft, die war schrecklich“, erinnert sich Gertrud Zil- likens nur ungern an diese Zeit zurück. Die mehrstöckigen Bet- ten sind voller Wanzen. „Die haben uns gequält, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Das war grausam.“ Als noch grausamer erweist sich Laufe der Zeit dann aber wohl der Zwang zum Nichtstun. Für die Kinder gibt es zunächst keinerlei Schulunterricht und auch sonst kaum Beschäftigungs- möglichkeiten. „Da dösen sie bloß was rum“, bringt Gertrud Zil- likens die erzwungene Tatenlosigkeit auf den Punkt. Man habe nicht richtig spielen können. „Sie hatten immer nur den Blick auf die Soldaten, die da immer rundgingen.“ Als Kind habe man dann zwangsläufig immer gedacht: „Was machen die mit einem? Erschießen die dich oder was machen die? Die Angst war ein- fach da.“ Ohnehin sind die Lagerinsassen permanent von Todesangst und Tod umgeben, denn die Sterblichkeitsrate in den Lagern – zumal bei Kindern – liegt angesichts der Unterbringungs- und Versorgungsmissstände extrem hoch. Auch das Baby, das Ger- truds Tante in einem anderen dänischen Flüchtlingslager zur Welt bringt, stirbt bald nach der Geburt. Ihre Schwester Hedwig hingegen verdankt diesem Aufenthalt wahrscheinlich sogar ihr Leben. Schwer asthmakrank in Dänemark angekommen, profi- tiert sie offenbar von der Seeluft und gesundet zusehends. Sie, die in Braunsberg noch durch eine Injektion getötet werden sollte, überlebt nicht nur Flucht und Lageraufenthalt, sondern heiratet später und lebt noch Jahrzehnte in Westdeutschland! „Das können Sie sich gar nicht vorstellen. Das war grausam.“ – Im Lager Ende 1947, so erzählt Gertrud Zillikens, habe es dann geheißen: „Wer Verwandte in Deutschland hat, der kann sich melden. Der kann nach Hause.“ Katharina Riediger greift zur Notlüge und gibt einen Kontakt an, den es gar nicht gibt. „Ja, da konnten wir auch ausreisen. Aber: Wohin?“ So beginnt eine Odyssee ohne konkretes Ziel. Mit dem Zug verlassen die Riedigers Dänemark und halten „überall in Deutschland“. „Ob es Lübeck war oder was sonst alles: ‚Ne, Flüchtlinge können wir nicht brauchen.‘“ In Niederbreisig am Rhein wird der Waggon, in dem auch die Familie untergebracht ist, dann kurzerhand abgehängt. „Das war an Heiligabend.“ Die Mutter steigt aus und spricht einen Passanten an: „Es ist Heiligabend, und wir liegen hier im Viehwaggon. Noch nicht einmal etwas Stroh haben wir. Da können wir doch nicht leben.“ Der Passant hat ein Einsehen und sorgt dafür, dass die Gruppe in einem ortsansässigen Hotel Aufnahme findet. Tatsächlich: „Da konnten wir schlafen. Wir kriegten auch noch ein Essen.“ All das allerdings geht weitgehend unbemerkt an Gertrud vo- rüber. „Ich habe geschlafen – Tag und Nacht. Ich war fix und fertig, ich konnte nicht mehr. Meine Mutter sagte: ‚Du wurdest gar nicht mehr wach. Ich bekam schon Angst.‘“ Erst nach zwei Tagen und Nächten ununterbrochenen Schlafs kann die mitt- lerweile Vierzehnjährige die Umgebung genießen. Die Zustände in dem offenbar auf Flüchtlinge eingestellten Hotel empfindet sie tatsächlich als weihnachtlich: „Alles schön sauber und ein bezogenes Bett.“ Nach den herrlichen Tagen der Erholung in Breisig geht die Irrfahrt dann per Zug und LKW weiter – allerdings stets mit dem gleichen desillusionierenden Ergebnis: „‚Ne, ne, die Flücht- linge können wir nicht brauchen.‘ Das war schlimm.“ Nach meh- reren Tagen erreichen die Riedigers dann endlich Hochneu- kirch, „wo ich dann kleben geblieben bin“. „Es ist Heiligabend, und wir liegen hier im Viehwaggon.“ – Rückkehr nach Deutschland
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