Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen
47 AUS DEM LEBEN VON GERTRUD ZILLIKENS In Hochneukirch werden die Neuankömmlinge, die nun wissen, dass ihre Familie nie mehr vollständig sein wird, zunächst im Saal einer Gaststätte untergebracht. „Da wurden ein paar Strohsäcke reingeworfen, und dann lagen wir da mit ungefähr 20 Personen.“ Aber selbst diese dürftigen Umstände empfindet Gertrud nach der harten Zeit auf dem LKW als Wohltat: „Ach, auf einem Strohsack liegen war ja auch schon was Schönes!“ Bald darauf ergeht der Aufruf, dass Mütter mit ihren Kindern in die Schule gehen können, um dort Suppe zu kochen. Eines Tages kommt die Frau des örtlichen Metzgers und schenkt je- dem der Flüchtlingskinder ein Stück Schinkenwurst. „Ach, das war ein Genuss! Wurst oder Obst, das kannten wir ja gar nicht mehr“, kann sich Gertrud Zillikens bis heute an das damit ver- bundene Glückgefühl erinnern. Nach einiger Zeit erscheint dann ein Gemeindebeamter in der Sammelunterkunft und fährt mit Familie Riediger in das kleine, zu Hochneukirch gehörende Dorf Holz. Dort soll sie bei einem Bauern ein sehr kleines „Zimmerchen“ beziehen. Die Aufnahme fällt wenig freundlich aus: „Nein, die nehme ich nicht. Was sollen wir mit dem Packzeug?“, habe die Bäuerin ge- schimpft. „Nein, wie die Frau uns betitelt, das ist doch furchtbar“, habe sie in dem Moment gedacht, erzählt Gertrud Zillikens. Der Gemeindebeamte habe sich allerdings wenig beeindruckt gezeigt. „Das ist Pflicht. Sie müssen die nehmen. Die Leute bleiben hier!“ Ein einziges Bett habe in dem kleinen Raum gestanden, von dem die Bäuerin sofort Federbett, Kopfkissen und Bezüge ent- fernt habe. Als sie auch noch die Matratze habe herausnehmen wollen, sei wieder der Gemeindevertreter eingeschritten und habe sie davon abgehalten. Wie soll man bloß mit vier Personen in einem Bett schlafen, „das ist doch ein Unding“, habe sie da- mals gedacht. Aber auch die restliche Möblierung ist kaum für einen längeren Aufenthalt geeignet: ein kleines Kanonenöfchen mit einer Herdplatte, ein Stuhl, ein kleiner Tisch und ein schma- ler Kleiderschrank sind das komplette Mobiliar. „Ja, und dann haben wir dann da gelebt.“ Dabei wäre es problemlos möglich gewesen, der vierköpfigen Familie mehr als diesen kleinen Raum zuzugestehen, denn – daran erinnert sich Gertrud Zilli- kens genau – in dem Bauernhaus hätten noch drei weitere Zim- mer völlig ungenutzt leer gestanden. Die beiden Kranken – Mutter Katharina und Schwester Hed- wig – schlafen von nun an in dem einzigen Bett, während Ger- trud und Angelika auf der Erde liegen müssen. Zum Zudecken dient das Wenige, was an geeigneter Kleidung vorhanden ist: kleine Kindermäntel, aus denen die Mädchen nach fast drei- jähriger Flucht herausgewachsen sind, müssen dafür ausrei- chen. Dieser Zustand, so Gertrud Zillikens noch heute mit eini- ger Bitterkeit, habe recht lange angedauert, bis endlich eines Tages jemand von der Gemeindeverwaltung aufgetaucht sei und ihnen zumindest einige Decken gebracht habe. Das Verhältnis zur Bäuerin bleibt ausgesprochen schlecht. „Die war schlimm, die gab noch nicht einmal einen halben Liter Milch für uns Kinder.“ Außerdem versucht die Frau offenbar, die Kinder zum Diebstahl zu verleiten – wahrscheinlich, um so eine Handhabe für eine Ausquartierung in die Hand zu bekom- men. So stellt sie große Körbe mit frischen Äpfeln auf die Treppe. Doch die Riediger-Töchter sind gewarnt: „Kinder, ver- greift euch ja nicht an deren Obst“, habe die Mutter immer wie- der gewarnt. Dass sie damit Recht hat, belegt ein kleiner Zwi- schenfall: Eines Tages bittet Katharina Riediger ihre Tochter, ihre frisch gewaschene Kittelschürze von der Wäscheleine ab- zunehmen. „Sie konnte ja selbst nicht rausgehen, denn sie hatte ja keine Kleidung zum Wechseln.“ Weil die Wäscheleine auf der Obstwiese befestigt ist, wird Gertrud erneut mit auf den Weg gegeben, dort ja keine Äpfel zu pflücken. Fallobst dürfe sie allerdings nehmen. Als sie daraufhin vier Äpfel vom Boden aufhebt, erscheint gleich die Bäuerin auf der Bildfläche. „Was hast Du denn da, Gertrud“, habe sie scheinheilig gefragt. Als sie danach an der auf dem Arm liegenden Wäsche geschüttelt habe, seien natürlich auch die vier Äpfel zu Boden gefallen. „Die Äpfel sind für unsere Schweine“, habe die bösartige Bäue- rin daraufhin gesagt, „die darfst Du nicht essen.“ Sie sei in dem Augenblick so geschockt gewesen, erinnert sich Gertrud Zilli- kens, dass sie nicht gewusst habe, ob sie weinen oder schimp- fen sollte. Ohne Widerworte geht sie ohne Äpfel ins Zimmer zurück. Zum Glück sind bei Weitem nicht alle Holzer so hartherzig wie die Bäuerin. Andere Landwirte aus der Nachbarschaft hätten ihnen abends oft etwas zukommen lassen, erzählt Gertrud Zil- likens. Selbst der Mann der unfreundlichen Gastgeberin steckt den Riedigers ab und zu – und natürlich heimlich – Lebensmittel zu. Einmal habe er für sie ein paar Kartoffeln hinter ihrer Koh- lenkiste in der Scheune versteckt. Auch das beobachtet die offenbar allgegenwärtige Bäuerin vom Küchenfenster aus und nimmt den Riedigers das kleine Geschenk prompt wieder ab. Zum Glück habe es vier andere Bauern und weitere Men- schen in Holz gegeben, die immer wieder geholfen hätten, denn seitens der Gemeinde kann sich Gertrud Zillikens an keine di- „Nein, die nehme ich nicht. Was sollen wir mit dem Packzeug?“ – Aufnahme in Hochneukirch „Die Holzer, die waren einmalig.“ – Ablehnung und Hilfe
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