Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

48 AUS DEM LEBEN VON GERTRUD ZILLIKENS rekte Unterstützung erinnern. Im kleinen Dorf entwickelt sich im Laufe der Zeit eine Art zwar nicht offen gezeigter, aber den- noch praktizierter Solidarität. Als sich in der Dorfschule, die die jüngere Schwester Angelika besucht, herumspricht, dass es bei Riedigers am Essen mangelt, reagieren die Kinder hilfs- bereit. Sie geben der hungrigen Familie ihre Schulspeisung ab, ein Verhalten, dass die mittlerweile 84-Jährige bis heute tief beeindruckt. „Die Leute waren alle sehr nett. Ganz Holz war nett zu uns!“ Die Gastgeberin wider Willen verändert ihr Verhalten hinge- gen erst nach der Währungsreform. Nun bietet sie ihren unge- liebten Gästen Butter und andere Produkte des Hofes zum Kauf an. Das habe ihre Mutter allerdings „dankend“ abgelehnt, erzählt Gertrud Zillikens und ergänzt, dass sie die Kommentare, die Katharina Riediger bei dieser Gelegenheit ausgesprochen habe, nicht im Wortlaut wiedergeben möchte. Auch auf eine andere Institution und deren Vertreter ist Ger- trud Zillikens bis heute nicht gut zu sprechen. Angesichts des schlechten körperlichen Zustands von Mutter und älterer Schwester sucht sie eines Tages den Ortspfarrer auf und fragt ihn, ob es vielleicht möglich wäre, den beiden Geschwächten mit kirchlicher Unterstützung einen Aufenthalt in einem Erho- lungsheim zu ermöglichen. „Ach ne“, habe der kurz und knapp geantwortet, „für die Flüchtlinge ist da jetzt kein Platz.“ Da habe sie gesagt: „Hören Sie mal, Herr Pastor, wir sind auch katholisch, sogar streng katholisch. Gibt es keinen Platz für meine kranke Mutter?“ Und wiederum verneint der Geistliche. Man habe ge- rade eine Gruppe Einheimischer für einen solchen Kuraufent- halt ausgewählt. Es gäbe keine Plätze mehr – fertig! Sie sei trotzdem noch lange in die Kirche gegangen, erzählt die von der damaligen Reaktion des Pfarrers tiefgetroffene Gertrud Zillikens. Und sie habe dort von ihren geringen Ein- künften stets noch etwas für die Kollekte abgezwackt. „Eigent- lich hätte ich sagen sollen: ‚Ihr könnt mich mal!‘“ Trotz negativer Erfahrungen mit Einzelpersonen überwiegt bei ihr insgesamt aber eindeutig ein positiver Blick auf die große Hilfsbereitschaft der Holzer Bevölkerung. Ob nun die Frau, die sie und ihre Geschwister mit selbstgenähten Kleidern versorgt, jene Mutter gleichaltriger Kinder, die ihnen dringend benötigte Unterwäsche schenkt oder andere Einwohner, die ab und zu mit Strümpfen und anderen nützlichen Dingen aus- helfen: „Die Holzer, die waren einmalig. Das kann ich immer nur wieder sagen.“ Auch der Kontakt zu den Gleichaltrigen im Dorf ist ausge- sprochen gut, da sie offenbar keinerlei Scheu an den Tag legen, die Neuankömmlinge zu akzeptieren und wie selbstverständlich zu integrieren. Die seien immer zum Hof gekommen und hätten gerufen „Hedwig, Gertrud, seid ihr fertig?“ Dann habe sie kurz durch das kleine Zimmerfenster geantwortet, und man sei ge- meinsam zur Kirmes oder anderen Feierlichkeiten gegangen. Jeden Abend habe man sich zudem bei einem Nachbarn ge- troffen und vor dessen Haus auf einer Mauer mit langer Stange gesessen. „Da saßen wir wie die Hühner drauf, all die Jugend- lichen. Das war wunderschön“, erinnert sich Gertrud Zillikens noch heute gern an diese Zeit zurück. Diese Treffen sind vor allem deshalb so wichtig, weil sie vom tristen Alltag in dem mehr als engen Zimmer ablenken. „Wenn es hieß, jetzt musst Du da wieder raufgehen, das war grausam.“ „Da hatte ich ein wunderbares Leben.“ – Aufteilung der Familie Angesichts der engen Räumlichkeiten und dem bedenklichen Gesundheitszustand von Mutter und Schwester muss dringend etwas an der Unterbringung geändert werden. Weil größere Wohnungen zu jener Zeit praktisch nicht zu bekommen sind, geht Familie Riediger einen anderen Weg und teilt sich sozu- sagen in Holz auf. Die gesundheitlich nach wie vor angeschla- gene Hedwig etwa findet Aufnahme in einer ortsansässigen Familie, wo sie eine gute Unterkunft findet und gut ver- und gepflegt wird. Auch Gertrud hat Glück und wird zeitweise Mitglied einer Holzer Gastwirtsfamilie. „Die Leute haben mich genommen“, erzählt sie noch heute mit großer Dankbarkeit. Ein gutes Drei- vierteljahr verbringt sie in der Familie, bekommt reichlich zu essen, hat ein eigenes Bett und wird zudem mit neuen Kleidern ausgestattet. „Da hatte ich ein wunderbares Leben.“ Vor allem einen vollgedeckten Tisch ist Gertrud seit Jahren nicht mehr gewohnt, so dass ihr gleich am ersten Abend in der Gastfamilie etwas passiert, was ihr bis heute etwas peinlich ist. Sie ist von dem reichlichen Abendbrot so irritiert und begeistert, dass sie weder rechts noch links schaut, sondern mit dem Essen be- ginnt. „Ich habe gegessen und gegessen und gar nicht geguckt. Und auf einmal sagt der Opa: ‚Gertrud, wir wollen auch noch etwas haben.‘ Ach, da bin ich in Tränen ausgebrochen. Ich habe mich geschämt. Da sagt er: ‚Ist doch nicht schlimm. Wir haben so viel, Du kannst essen, was Du willst.‘“ Unter solchen für sie geradezu paradiesischen Umständen kommt die in der Spin- nerei hart arbeitende Gertrud bald wieder zu Kräften. Lediglich Nesthäkchen Angelika bleibt mit der Mutter in dem kleinen Zimmer auf dem so ungastlichen Bauernhof wohnen. Hierhin müssen allerdings auch Hedwig und Gertrud nach der schönen Zeit in ihren jeweiligen Gastfamilien zunächst wieder zurückkehren. Insgesamt müssen die vier Riedigers rund sieben Jahre in dem viel zu engen Zimmer mit einer unfreundlichen Vermieterin zubringen!

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