Rüther: Flüchtlinge und Vertriebene in Jüchen

Als Gertrud eines Tages eine Freundin auf deren Fahrrad in ei- nen Nachbarort begleitet, treffen sie auf einen jungen Mann, der sie anspricht. „Was macht ihr zwei denn hier?“ Weil er oh- nehin eine Bekannte besuchen will, begleitet er die beiden jun- gen Frauen per Fahrrad zurück nach Holz. Um Freundin Jose- fine zu entlasten, bietet der junge Unbekannte an, „die Kleine“, also Gertrud, auf seinem Fahrrad mitzunehmen. So beginnt die Fahrt in ein neues Leben: „Stundenlang vorne auf der Stange“, erinnert sich Gertrud Zillikens lebhaft zurück, „ich bin fast ver- rückt geworden; aber keinen Ton gesagt!“ „Die Flüchtlingsmädchen“, so beschreibt sie deren Situation, seien in Holz „ruck zuck“ weg, sprich mit einheimischen Jungen verbandelt gewesen. Auch in diesem Fall fragt der junge Mann, ob man sich noch einmal wiedertreffen könne? Beide verein- baren ein Treffen auf der Holzer Kirmes, obwohl Gertrud noch gar nicht weiß, wie ihr „Kavalier“ überhaupt heißt. Stück für Stück rückt man sich während der Kirmes im Festzelt näher, „und auf einmal saß er bei uns auf der Bank“. „Da hat er mich nicht mehr tanzen lassen mit anderen, und dabei ist es geblie- ben.“ Josef Zillikens und Gertrud Riediger werden ein Paar, heiraten 1953 und werden Eltern von zwei Kindern und Großeltern von zwei Enkelkindern. Mittlerweile, so erzählt sie im September 2016, habe man sogar schon die Diamantene Hochzeit gefeiert. Ganz so reibungslos, wie es auf den ersten Blick anmutet, kommt die dauerhafte Beziehung jedoch nicht zustande. Freund Josef ist Einheimischer, was dazu führt, dass dessen Eltern die Liaison ihres Sohnes zunächst überaus skeptisch betrach- 50 AUS DEM LEBEN VON GERTRUD ZILLIKENS „Ein Flüchtlingskind hat doch kein Hemd am Hintern.“ – Verliebt – Verlobt – Verheiratet die einzige der vierköpfigen Familie, die arbeiten und so den Lebensunterhalt bestreiten kann. „Ich konnte nicht mehr zur Schule gehen, denn ich musste Geld verdienen. Meine Mutter konnte doch nicht.“ Tatsächlich ist Katharina Riediger als Folge von Krieg und Flucht zu 100 Prozent arbeitsunfähig und auch Schwester Hedwig ist trotz ihres verbesserten Gesundheits- zustands noch nicht in der Lage, aktiv zur Versorgung beizu- tragen. Nachdem sie sich rund neun Monate lang in der Gastwirts- familie erholt hat, ist es für Gertrud daher an der Zeit, nach einer Arbeit Ausschau zu halten. Tatsächlich findet sie einen Arbeitsplatz in der ortsansässigen Baumwollspinnerei I.A. Lind- gens Erben, wo das noch immer schmächtige Flüchtlingskind fortan im Akkord arbeitet. Der verantwortliche Betriebsleiter zeigt sich besorgt. „Nein, Fräulein Riediger, ich kann sie nicht da oben hinbringen. Das geht nicht, Sie sind viel zu schwach.“ Die Antwort ist klar und deutlich: „Doch, Herr Betriebsleiter, ich muss. Meine Mutter muss leben, und wir sind noch mit zwei weiteren Geschwistern. Wir haben kein Geld.“ Entgegen aller widrigen Umstände und körperlichen Schwä- che legt sich Gertrud derart ins Zeug, dass ihr schon nach kur- zer Zeit die Verantwortung für eine eigene Maschine übertragen wird. Die Arbeit wird dadurch keineswegs leichter, denn sie muss auch die schweren Garnrollen alleine transportieren. „Aber ich habe es geschafft“, berichtet sie noch heute stolz über diese harte Zeit, „ich musste doch meine Mutter auch am Leben halten.“ Und weiter: „Wie ich dann meine erste Löhnung bekam, war ich stolz.“ Der Preis allerdings ist hoch, denn Gertrud hat damals durch- aus eigne Ambitionen. „Und ich wäre gerne auch was geworden, aber es hat nicht hingehauen“, beschreibt sie rückblickend die für sie zwar unglückliche, zugleich aber auch ausweglose Si- tuation jener Jahre. Ihren Status im Betrieb kann Gertrud aufgrund ihrer Arbeits- leistung zwar stabilisieren, ein anderes wesentliches Kriterium zur endgültigen Anerkennung zu diesem Zeitpunkt aber nicht erfüllen: Sie kann das ortsübliche niederrheinische Platt weder sprechen noch verstehen, was ihr von der alteingesessenen Belegschaft zum Vorwurf gemacht wird. „Du wurdest nicht an- erkannt. Ich fragte: ‚Warum denn nicht? Ich arbeite genau wie Du.‘ ‚Ne, Du musst Platt sprechen. Hochdeutsch verstehen wir hier nicht.‘“ Erst als es ihr im Laufe der Jahre gelingt, die Ein- heimischen zunächst zu verstehen und dann auch nach und nach ihren Dialekt zu sprechen, ermöglicht ihr das die endgül- tige Integration am Arbeitsplatz. Die Holzer Ortsbevölkerung hingegen, so betont Gertrud Zillikens heute, habe die Sprachbarriere überhaupt nicht er- wähnt oder gar gestört. Stattdessen hätten die Bewohner ver- sucht, mit den Flüchtlingen im Dorf Hochdeutsch zu sprechen – „so gut sie eben konnten; die meisten fielen schnell wieder ins Platt rein“. Die Beschäftigung in der Spinnerei bringt nach Jahren end- lich die Erlösung: 1952 sorgt Gertruds Betriebsleiter dafür, dass Familie Riediger das viel zu kleine Zimmerchen auf dem Bau- ernhof verlassen und in eine nagelneue Betriebswohnung in der Weidenstraße ziehen kann. Bis dahin hatten Gertrud und Angelika – trotz schwerer Arbeit in der Spinnerei – weiterhin auf dem Boden schlafen müssen. Nun beginnt in dieser Hinsicht ein völlig neues Leben: „Ein schönes Schlafzimmer, eine große Küche, ein Kinderzimmer und ein Bad. Das waren wir ja gar nicht gewohnt. Da hatten wir endlich ein menschliches Leben. Da ging das wieder.“

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